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Freitag, 25. Juni 2010

Die Zeitlüge

Es ist schwierig von der Vorstellung loszukommen, dass man selbst "mehr" Zeit braucht.

Ich fahre jeden Tag 20 Minuten mit dem Zug zur Arbeit und wieder zurück. Ich stehe morgens eine halbe Stunde früher auf als ich eigentlich müsste um meine Morgenseiten zu schreiben. Und es wäre sicherlich auch möglich abends zumindest eine halbe Stunde effektiv zu nutzen.

Schreiben hat für mich auch etwas mit Organisation zu tun. Damit meine ich nicht die Organisation des Schreibens, sondern alles um mich herum. Dazu gehört ein Schreibtisch, an dem ich mich wohl fühle, und eine Übersicht dessen, was zu tun ist.

Das allerschwierigste bleibt jedoch "mir die Zeit zum Schreiben zu nehmen, statt auf sie zu warten".

Den nachfolgenden Satz sollte ich mir vielleicht jeden Tag mindestens einmal durchlesen: "Die Zeitlüge ist ein bequemes Mittel, um sich der Tatsache zu verschließen, dass auch Romane Satz für Satz geschrieben werden müssen. Sätze können innerhalb von Augenblicken entstehen. Genug solcher gestohlener Augenblicke, genug gestohlene Sätze, und ein Roman ist vollendet - und zwar ganz ohne den Luxus unbegrenzter Zeit".

Neben dem sich die Zeit nehmen ist auch die Erkenntnis wichtig, dass man nicht versuchen sollte etwas Vollkommenes zu schaffen; einfach drauflos schreiben. Nicht immer einfach, aber mit ein wenig Übung zu schaffen.

"Wir alle haben Zeit zum Schreiben. Wir haben Zeit zum Schreiben, sobald wir uns damit zufrieden geben, schlecht zu formulieren, in einer Sackgasse zu enden, jedes Mal nur ein paar Sätze aufs Papier zu bringen und einfach nur um des Schreibens Willen zu schreiben, anstatt ein vollkommenes, geschliffenes Resultat anzustreben. Die Obsession mit dem Zeitmangel ist in Wirklichkeit nichts anderes als Perfektionismus. Wir wollen genug Zeit, um vollendet zu schreiben".

Alltäglichkeit

Ich gebe meinen Tagen durch Schreiben Struktur, und manchmal fühlt sich das Schreiben an wie eine Brücke über einen Abgrund im Dschungel. Ich bin dieser Abgrund, dieser Dschungel.

Schreiben ist Bewegung. Schreiben ist die Verpflichtung einem selbst gegenüber, voranzukommen und das zu werden, was immer zu werden wir im Begriff sind.

Schreiben ist zugleich das Boot und der Wind in den Segeln. Selbst an den Tagen, an denen der Wind der Inspiration nur schwach weht, gibt es ein wenn auch noch so geringfügiges Vorankommen. Um das Vorankommen, selbst wenn es in kleinen Trippelschrittchen erfolgt, geht es beim Schreiben.

Es ist ein Hort der Transformation, der spirituellen Alchimie. Wir nehmen an, was immer das Leben für uns bereithält und wir machen etwas daraus.

Manchmal handelt es sich um eine einfache Suppe. Manchmal ist es ein Festbankett. Gelegentlich wird uns nichts als Knochen zum Abnagen zuteil. Aber immer ist es etwas, das zu verdauen wir fähig sind.

Tägliches Schreiben, Schreiben einfach um des schreibens willen, ist so, als hielte man einen Topf mit Suppe auf dem Herd warm. Die Mahlzeit ist immer da, kann gekostet, neu abgeschmeckt werden, ist immer nahrhaft, würzig, Leben erhaltend. Wie Suppe muss auch Ihr tägliches Schreiben nicht ausgefallen sein. Ein paar einfache Zutaten reichen aus.

Aufrichtigkeit, Beobachtung und Vorstellungskraft sind die drei Grundsubstanzen. Sie bilden die Brühe, in der die übrigen Zutaten schwimmen. Wir sehen uns an, wo wir uns befinden.

Das ist die Frage, die tägliches Schreiben immer stellt: "Was dann?"

Hier befinde ich mich, und so fühle ich mich (Beobachtung und Aufrichtigkeit). Hier ist, was ich daraus machen kann (Vorstellungskraft). Anders ausgedrückt: Tägliches Schreiben ist zugleich der Raum, in dem ich mich befinde und die Tür zu der Welt jenseits dieses Raumes. Indem Sie den Raum Ihrer Erfahrung ein Wort ums andere durchqueren, gelangen Sie zur Tür, und selbst wenn Sie ein Gefangener Ihrer Umstände sind, so steht es Ihnen frei, die Tür in Ihrer Phantasie zu öffnen. Gelegentlich knarren die Angeln. Gelegentlich seufzt die Tür auf vor Erleichterung. Manchmal lässt das Öffnen der Tür so viel Licht und Klarheit herein, dass Sie sie - schnell! - wieder zuwerfen. Das Schreiben gestattet Ihnen all dies und beschränkt sich darauf, es zu beobachten. Das Schreiben hält einen Spiegel hoch, bietet Harmonie an, streckt eine freundliche Hand aus. Das Schreiben sagt Ihnen, dass jeder Punkt, an dem Sie angelangt sind, bedeutungsvoll und der Beginn von etwas Neuem ist.

In diesem Sinn ist Schreiben der meditative Akt des liebevollen Erinnerns. Es ist ein Weg zu uns selbst und hinein in unser Selbst.

Wenn wir unser eigenes Leben und unsere Gedanken genau bezeugen, sie in dem Augenblick festhalten, in dem wir sie sehen und hören, dann ist das, was wir bezeugen, plötzlich viel größer, als wir ursprünglich erwartet hatten. Wir bezeugen das Leben selbst. Wir lernen.

aus "Von der Kunst des Schreibens" von Julia Cameron (Seite 213 ff.)

Samstag, 21. November 2009

Von der Kunst des Schreibens: Eine Mauer der Niedertracht

Ich will Ihnen zeigen, wie ich mir Dramen zunutze mache.
Als ich mich mitten in den Wirren meiner in Hollywood öffentlich ausgetragenen Ehescheidung befand, überraschte es mich, dass ich plötzlich von allen möglichen "Freunden" Zeitungsausschnitte über meinen untreuen Ehemann zugeschickt bekam. Mein plötzlich berühmter Partner war mit meiner sehr berühmten Freundin durchgebrannt. Warum sollte ich darüber etwas erfahren wollen?

Basierte diese vermeintliche Anteilnahme auf dem Ansatz "besser schlechte Nachrichten als gar keine"? Ich empfand das als Sadismus. Begriffen die Leute nicht, dass Berühmtheit kein Talisman gegen seelischen Schmerz ist? Ehebruch ist und bleibt Ehebruch, auch wenn man berühmt ist. Ich fühlte mich durch die Zeitungsausschnitte zurechtgesteckt. Nicht nur meine Flügel waren beschnitten, auch meinem Herzen und meinem Stolz wurde Gewalt angetan.

"Die verschmähte, betrogene Ehefrau" - was für ein großartiges Selbstbild! Und ich bekam es auch noch schwarz auf weiß serviert. Ich sah rot. Ich hielt mich nicht lange mit der Frage: "Wie können sie mir so etwas nur antun?" auf. Es war geschehen. Und nun ging es darum, wie ich damit umgehen würde. Wie sollte ich das Bild gerade rücken? Ich beschloss: durch Schreiben. Um es genau zu sagen, ich wollte ein Drehbuch schreiben, in dem all die Dinge vorkamen, die sich gerade in meinem Leben aspielten: Liebe, Freundschaft, Verrat und Rache.

Um mir Hilfe für dieses Vorhaben zu beschaffen, erfand ich ein neues Werkzeug für meine Schreibwerkstatt: die Mauer der Niedertracht.

Statt die Zeitungsausschnitte zu verbrennen, fortzuwerfen oder auf den Grund meiner Schreibtischschublade zu verbannen und zu vergessen, rief ich mir ins Gedächtnis, dass Emotion ein Treibstoff ist und dass ich meine verletzten Gefühle ebenso gut als Motor zum Schreib nutzen könnte.

Zum damaligen Zeitpunkt befand sich meine "Schreibecke" in Form eines kleinen Sekretärs aus dem achtzehnten Jahrhundert vor einem hohen Doppelflügelfenster mit Blick auf den Garten. Eingerahmt war das Fenster vor einem schweren Mousseline-Vorhang, an dem ich nun meine Zeitungsausschnitte mit Stecknadeln befestigte. Ich setzte mit hin, um zu schreiben, und fühlte mich überwältigt vor Schmerz.

"Ich packe das nicht", dachte ich. "Diesen Schmerz überstehe ich nicht."
"Das packst du sehr wohl!", meldete sich in mir ein kleines, zartes Stimmchen. "Sag ihnen, was du von ihnen hältst! Lass dich von diesen fiesen Leuten nicht unterkriegen."
Sobald ich die kleine Stimme in mir hörte, blickte ich auf zu den Zeitungsausschnitten; mein Ehemann, der mit seiner neuen Lieben tanzt - meiner vermeintlichen Freundin. Wenn ich sie so sah, Wange an Wange, dann schoss mir das Adrenalin geradewegs in die Finger. Die schwelende Wut und mein Groll produzierten die Asche, aus der sich der Phönix erheben konnte.
Einen um den anderen Tag, eine um die andere Seite, einen um den anderen Blick auf meine Mauer der Niedertracht, und die Manuskriptseiten stapelten sich immer höher. Wenige Tage nach der Fertigstellung verkaufte meine Agentin das Drehbuch an Paramount.

In meinem Fall zog die Mauer der Niedertracht im wahrsten Sinne des Wortes den Vorhang für mein früheres Leben.
Wie ich, so können auch Sie Ihre negativen Gefühle als Treibstoff nutzen. Zwar fußte mein Drehbuch auf dem durch Betrug verursachten Schmerz und der dazugehörigen Wut, doch machten sich schon bald auch andere Einflüsse und Fragestellungen darin breit. Figuren, die auf der Grundlage realer Personen angelegt sind, beginnen nämlich meist bereits nach kurzer Zeit ein Eigenleben, werden zu Bürgern mit einem eigenen Charakter, einer eigenen Meinung und bewohnen bald eine Welt, die mehr mit ihnen selbst als mit einem selbst zu tun hat.

Dieser Umstand macht das Rachemotiv als Schreibmotor, insbesondere am Anfang, äußerst zweckmäßig, denn früher oder später tritt das Rachemotiv in den Hintergrund, und man beweist sich im Grunde nur noch die Bereitschaft und Findigkeit der eigenen Kreativität.

Es ist äußerst schwierig, ja fast unmöglich, weiter in den Einzelheiten der autobiographischen Erfahrung stecken zu bleiben, sobald sich alternative Möglichkeiten im Kopf und dann auf dem Papier ausbreiten.

Ja, ich gebe zu, ich befürworte das Schreiben aus Rache. Ich befürworte auch das Schreiben, um es jemandem endlich einmal so richtig zu zeigen. Dabei verwandelt man die Schlacke der eigenen Enttäuschung in das Gold der eigenen Leistung. Auf lange Sicht zeigt man es dabei vor allem sich selbst, und zu Gesicht bekommt man: sich selbst.

Wenn Verletzungen verdrängt statt eingestanden werden, dann bewirken sie eine Schreibhemmung. Im Unbewussten lauernd, stehlen sie uns auf mysteriöse Weise die Kraft zum Schreiben. Ins Bewusstsein gehoben, haben wir die Möglichkeit, unseren Widersachern aktiv zu zeigen, was eine Harke ist.

Sonntag, 8. November 2009

Von der Kunst des Schreibens: Drama (2)

Ich schreibe, weil ich für mich eine Regel aufgestellt habe, und die lautet: "Gib den Dramen den Raum, der ihnen gebührt - in deinen Texten".

Man könnte behaupten, ich sei unbarmherzig. Diese Unbarmherzigkeit habe ich mir hartnäckig erkämpft. Aus bitterer Erfahrung weiß ich, wenn ich mich erst auf die persönlichen Dramen anderer einlasse, dann bin ich zu müde, zu abgelenkt, zu außer mir, um noch zu schreiben - das kann ich mir nicht leisten.

Für die Kreativität eines Schriftstellers sind persönliche Dramen Gift. Die Bereitschaft, sich auf die Machtkämpfe anderer einzulassen, kommt einem gezielten Sabotageanschlag auf die eigene Kreativität gleich.
"Aber er!" ruft die eine meiner Freunde.
"Aber sie!" ruft der andere.
Inzwischen suche ich mir sorgsam einen Weg durch die Mitte.

"Ich kann mich gerade nicht in so etwas hineinziehen lassen. Ich bin mir sicher, dass ihr das Problem auch alleine löst. Bei mir ist es jetzt mit dem Schreiben soweit". Und es ist bei mir mit Schreiben "soweit". Dieser Ausdruck, der an Schwangerschaft und Reifung erinnert, ist ebenfalls eines meiner Lernstücke.

Jeder Tag besteht aus Myriaden von Augenblicken. In jedem dieser Augenblicke können wir eine Wahl treffen. Soll ich zwangzig Minuten lang schreiben oder soll ich mich für zwanzig Minuten am Telefon als Klagemauer zur Verfügung stellen? Soll ich zwanzig Minuten mit dem Hund spazieren gehen und die Zeit nutzen, um über den Handlungsfaden einer Geschichte nachzudenken, oder soll ich mir einreden, dass ich keine Zeit zum Spazierengehen habe und lieber meine Schwester anrufen, um mich bei ihr darüber auszuheulen, dass ich mein Leben nicht selbstbestimmt führen kann?

Mit anderen Worten, soll ich Dramen zum Inhalt meines Schreibens machen oder soll ich mich auf ein Drama einlassen, das mich letztendlich vom Schreiben abhalten wird?

Einer meiner Lieblingsfilme ist Howard Hawk´Napolen vom Broadway. Darin spielt John Barrymore einen exzentrischen Theaterdirektor. Immer wenn die Gefahr besteht, dass seine Pläne von jemandem durchkreuzt werden, zischt Barrymore: "Diese Ratte ... Dem knall ich die Eisentür vor der Nase zu".

Sobald er die Eisentür zugeschlagen hat, existiert die Person oder das Problem für Barrymore nämlich nicht mehr. Übrig geblieben ist lediglich die jeweilige dramaturgische Fragestellung, mit der er sich gerade beschäftigt. Man könnte auch sagen, dass John Barrymore als exzentrischer Theaterdirektor über einen erbarmungslosen, aufgeklärten Eigennutz verfügt. Dramen auf den Inhalt von Texten zu beschränken ist erbarmungsloser, aufgeklärter Eigennutz. Wer sich diese Art kreativer Selbstgenügsamkeit aneignet, für den ist ein eigenes Zimmer eine Annehmlichkeit, nicht aber die Voraussetzung für das Schreiben.

"Sie hat achtundvierzig Stunden, um sich bei mir zu entschuldigen. Wenn sie das nicht tut, dann ..."
"Ich bin sicher, alles wird gut. Ihr seid doch beide erwachsene Menschen".
"Sie? Keineswegs!"
"Er? Auf keinen Fall!"
"Hm. Bei mir ist jetzt leider das Schreiben fällig."

Mit diesen Worten kehre ich zurück zu meinem leeren Blatt Papier. Ich schlage die Eisentür zu. Ich weigere mich einfach, mich in irgendein Drama hineinziehen zu lassen, es sei denn, es dient mir und meinen Absichten. Ich halte mich an genau das, was ich predige: Wer sein Drama in mein Leben abladen will, der muss damit rechnen, dass er damit auf meinem Schreibblock landet.

Von der Kunst des Schreibens: Drama (1)

"Beschreiben Sie Ihr Drama. Dramatisieren Sie nicht Ihr Schreiben".

Ich weiß, dass für Schriftsteller angeblich eine Menge Grundvoraussetzungen gegeben sein müssen, damit sie ihr Handwerk ausüben können, nicht zuletzt die Verfügbarkeit eines eigenen Zimmers. Ich habe solche Zimmer besessen und das Schreiben darin genossen, aber mehr als in solchen Räumen habe ich in meinem Notizblock am Küchentisch geschrieben, habe ihn in einem dahinrasenden Wagen auf den Knien balancierend gefüllt oder in einem belebten Café.

Ich möchte Virgina Woolf, einer Frau mit festen Überzeugungen, ja nichts in den Mund legen, doch als die befand, dass wir ein Zimmer für uns allein benötigen, meinte sie gewiss, dass wir die Möglichkeit haben müssen, unsere Bedürfnisse, unseren Tagesplan und die Dramen anderer beiseite zu schieben, damit wir uns auf das Schreiben konzentrieren können. Anders ausgedrückt: Sie wollte wohl sagen: "Beschreiben Sie das Drama, aber dramatisieren Sie nicht das Schreiben".

Es ist ein physischer Akt, wenn man eine Tür hinter sich zuschlagen und damit eine Barriere zwischen sich und der Welt schaffen kann - oder zwischen der Welt und unserem geschriebenem Wort. Wie jeder weiß, taugt eine derartige Barriere nur so lange, wie sie ihren Zweck tatsächlich erfüllt.

Wenn wir uns auch weiterhin über das aufregen, was jenseits der geschlossenen Tür vorgeht, dann wird uns das Schreiben schwer fallen. Der Kunstkniff besteht also darin, statt einer physischen eine psychische Barriere zu errichten - eine "Tür", die sich wirklich sicher verschließen lässt gegen das Eindringen anderer und ihrer Interessen.

Ich habe zahlreiche Drehbücher geschrieben, während meine Tochter Domenica zuerst auf dem Fußboden umherrobbte und dann, noch unsicher auf den Beinen, meinen Schreibtischstuhl wie ein Trabant umkreiste. Ich habe Anrufe entgegengenommen, Windeln gewechselt, Tränenausbrüche besänftigt, Wangen getätschelt, Puppenkleider bewundert, Verkleidungspartys organisiert - und immer wieder geschrieben. Mit anderen Worten: Ich stand gleichzeitig bis zu den Knien im Fluss des Lebens und im Fluss der Wörter.

Wie ich das gemacht habe? Ich habe ein Abkommen mit mir selbst geschlossen: Gib den Dramen den Raum, der ihnen gebührt - in deinen Texten.

Dieses einfache Abkommen ist der Schlüssel zu meiner Gelassenheit und meiner Leistung als Schriftstellerin. Wenn irgendein Drama auf die Bühne strebt, dann sage ich mir einfach immer: "Damit beschäftige ich mich später - nach dem Schreiben".

In dem Moment, da ich dies niederschreibe, bekämpfen sich zwei meiner engsten Freunde bis aufs Messer. Beide Seiten rufen mich regelmäßig an, um mir von ihren Schwierigkeiten und ihren Ultimaten zu berichten. Ich reagiere mit einem: "Hm. Wir wollen die Sache nicht zu sehr eskalieren lassen. Hm. Vergesst nicht, ihr beide besitzt eine Menge Integrität".

So reagiere ist auf ihren Aufruhr - mit äußerster Ruhe und aller Liebe. Ich bin wie der Friedensstifter in einem von Jane Austens Romanen. Ich sage nichts, das die Situation noch mehr aufheizen könnte, sondern wähle Worte wie: "Ihr dürft nicht vergessen, dass ihr einander liebt. Jedenfalls war es einmal so und ist sicher auch heute noch gültig. Der Sturm wird vorübergehen". Mehr sage ich nicht: mustergültig Distanz bewahrt, Partei nicht ergriffen.

Verhalte ich mich so, weil ich die heilige Julia bin? Gewiss nicht. Zu mir selbst sage ich: "Ihr Idioten. Könnt ihr nichts anderes, als euch befehden? Warum schreibt ihr nicht lieber was?". Sobald ich bei "nicht lieber was schreiben" angelangt bin, gehe ich an meinen Schreibtisch und schreibe. Ich schreibe, obwohl sich meine liebsten Freunde gegenseitig zerfleischen. Ich schreibe, obwohl die Anwaltsschriftsätze wie selbstgebastelte Papierflieger durch die Luft schneiden und die Situation zum Eskalieren bringen.

Von der Kunst des Schreibens: Die richtige Stimmung (2)

Meine Mutter schrieb täglich. Ich sah zu, wie sie die zwei Minuten nutzte, die sie den Kaffee ziehen ließ, wie sie sich zehn weitere Minuten nach dem Abwasch des Frühstücksgeschirrs nahm und manchmal noch ein paar Augenblicke, während die Kinder Klavier übten oder ihre Hausaufgaben erledigten.

Meine Mutter war mir ein großes Vorbild, wenn es um die Schönheit und die Macht des Schreibens als greifbares Zeichen der Liebe ging. Sie hatte sieben Kinder, und wenn wir fort in unseren jeweiligen Internaten waren, schickte sie uns Briefe. Außerdem schrieb sie regelmäßig an ihre Schwiegermutter Mimi, die ihr lange, gewundene Episteln zurückschickte, und an ihre Schwestern, die ebenfalls oft antworteten.

Briefe erreichten und verließen den Schreibtisch meiner Mutter mit der gleichen Beiläufigkeit wie heute E-Mails. Meine Mutter machte kein Aufhebens aus dem Schreiben. Sie tat es einfach. Die ganze Zeit. Von meiner Mutter habe ich gelernt, dass man keine große Sache aus dem Schreiben machen muss. Man muss sich nur dransetzen.

Wenn wir fortwährend schreiben, ob wir nun in Stimmung sind oder nicht, ergreifen wir von unserer Schreibfähigkeit Besitz. Wir befreien das Schreiben aus dem Reich der Magie, in dem wir einsam auf dem Fels der Isolation stehen und die Winde um Inspiration anflehen, und machen es zu etwas Machbarem wie das Einschlagen eines Nagels mit einem Hammer.

Schreiben mag eine Kunst sein, ganz gewiss aber ist es ein Handwerk. Es ist eine einfache und zu bewältigende Tätigkeit, die so stetig und seriös sein kann, wie das Erledigen der Hausarbeit.
Ist Schreiben deshalb weniger romantisch?

Mein Freund Richard lebt in Venice Beach und nimmt immer ein Notizbuch mit an den Strand. Jeden Tag schwimmt er mit den Delphinen, kommt zurück, trocknet sich ab und macht sich ans Schreiben. Das Schwimmen hält ihn körperlich fit. Das Schreiben hält ihn geistig fit. Er verhandlet weder über das eine noch über das andere. Er wartet nicht auf "die richtige Stimmung", um sich ins eisige Wasser zu stürzen oder um sich auf dem Papier auszubreiten.

"Ich tue es einfach", sagt Richard, "und ich bin glücklich dabei. Gelegentlich kommt mir natürlich etwas dazwischen. Fällt das Schwimmen oder Schreiben dann flach, hat das Auswirkungen auf mein übriges Leben. Ich werde reizbar".

Aufgrund seines regelmäßigen Schreibens und Schwimmens ist Richard ein geübter Optimist. Von welcher Stimmung er aus ausgehen muss, sie wird zum Fundament für eine bessere. "Ich schauspielere mich hin zu richtigem Denken", erklärt Richard. Sich schauspielernd zu richtigem Denken vorzukämpfen heißt, auch dann den Stift aufs Papier zu setzen, wenn der innere Zensor aufjault und wenn sich das Schreiben "schlecht" anfühlt, weil wir müde sind oder keine Lust haben.

Wie auch immer wir uns fühlen, das Schreiben kann eine Veränderung bewirken, wenn wir ihm nur eine Chance geben. Der Kunstkniff besteht also schlicht darin, diese Gelegenheit auch einzuräumen.

Es ist eine falsche romantische Vorstellung, dass Kreativität etwas Flüchtiges ist und uns wie ein wankelmütiger Liebhaber jederzeit verlassen kann. Kreativität ist eine Laterne und kein flackerndes Kerzenlicht. Etwas will ebenso dringend durch uns zum Ausdruck kommen, wie wir schreiben wollen. Um das herauszufinden, sind Zeit und Geduld vonnöten.

"Lass dich einfach nur regelmäßig am Schreibtisch blicken. Setz deinen Stift aufs Papier und fang dort an, wo du gerade bist. Fang an zu schreiben, und etwas wird sich durch dich ausdrücken wollen. Es ist als knipse man das Licht an. Der Strom ist da und beginnt zu fließen".

"Du musst allen, was du schreibest, mit Liebe begegnen. Akzeptiere dein Schreiben als dauerhaft, als eine geliebte Person, die gute und schlechte, griesgrämige und euphorische Tage hat. Lass dein Schreiben es selbst sein. Schenk ihm Liebe, und es wird dich überraschen."

Ich gestand Regine, dass ich meinen inneren Schriftsteller ausführe, ihm teuere Kaffeekreationen mit Milchschaum wie Wolken spendiere. Ich nehme ihn mit auf Zugfahrten, damit er sich an der Aussicht erfreuen kann. Ich kaufe ihm Zeitschriften, Stifte, die von alleine schreibe, einen bestickten Sessel, den ich ans Fenster rücke, damit er gutes Licht hat. Ich gebe mir Mühe, meinen inneren Schriftsteller nicht zu drangsalieren oder anzugreifen. Ich zwinge ihn nicht, ständig das zu schreiben, was er schreiben "sollte", sondern lasse ihm genug Raum, um das zu Papier zu bringen, was er "möchte".

Mein innerer Schriftsteller hat gelernt, mir zu vertrauen, meine Gesellschaft zu schätzen und mich umgekehrt ebenfalls gut zu behandeln.

Ich sagte Regine, dass Stimmungen einen Schafften auf das Schreiben werfen wie vorüberziehende Wolken auf eine Landschaft. Sie verdüstern unsere Wahrnehmung einer bezaubernden Gegend und machen uns weis, verzweifelt sein zu müssen.

Von der Kunst des Schreibens: Die richtige Stimmung (1)

Ich bin heute zum Schreiben nicht in der richtigen Stimmung. Meine Gedanken sind aus dem Ruder gelaufen und sträuben sich. Ich fühle mich träge und reizbar. Ich will nicht schreiben. Mein Informationslieferant fühlt sich an wie der aus den Fugen geratene Körper eines Athleten. Der Einzige, der gut im Training ist, ist mein innerer Zensor.

Es spielt keine Rolle, dass ich seit dreißig Jahre ununterbrochen schreibe. Heute fragt mich mein innerer Zensor allen Ernstes: "Was weißt du denn schon über das Schreiben?" Eines weiß ich jedenfalls ganz gewiss: Man muss in keiner bestimmten Stimmung sein, um etwas zu Papier zu bringen.

Der Drang zum Schreiben ist ein menschlicher Primärinstinkt: der Wunsch, Dinge zu benennen, zu ordnen und auf diese Weise in gewissem Sinn Kontrolle über unsere damit verbundenen Erfahrungen zu erlangen. Der Drang zum Schreiben, die Urfreude, die wir als Kinder empfanden, als wir erst die Buchstaben lernten, aus denen sich unser Name zusammensetzt, und dann die Wörter, aus denen sich unsere Welt ergibt, ist verschüttet unter den Errungenschaften unseres rasenden, elektronischen, telefonbesessenen Zeitalters.

Die E-Mail ist eine Erfindung, die wieder ein gewisses Gleichgewicht schafft. E-Mails sind populär, weil die Menschen einfach gerne schreiben. Weil mailen zudem unmittelbar ist, hilft es den Leuten, ihren inneren Zensor auszutricksen. Mailen ist kein "echtes Schreiben". Es ist formloser, verschroben und erfinderisch. Es ist irgendwie ungezogen und anarchistisch wie die verbotenen Zettelchen damals in der Schule.

E-Mails verführen uns zum Schreiben, weil es auf einer von Autoritäten freien Plattform geschieht. Wir dürfen eilig abgefasste, knappe Notizen abschicken, mitten im begonnenen Gedanken abbrechen, Dinge sagen wie "Ich melde mich später noch mal bei dir". E-Mails gestatten uns Intimität ohne Förmlichkeit. Kein Wunder also, dass sie sich so großer Beliebthei erfreuen. Endlich können wir uns der Ketten entledigen.

Wenn wir um das Schreiben ein großes Aufhebens machen, dann lässt es sich schwer bewerkstelligen. Falls wir feststellen, dass das Schreiben - ohne dass wir es wollen - bereits zu einer großen Sache aufgelaufen ist, dann müssen wir lernen zu verhandeln. Ich nutze bei meinen Verhandlungen Bestechungen: "Schreib zwanzig Minuten, und dann kannst du hinterher die Dokumentation über Henry Miller angucken".

Elisabeth, eine Schriftstellerin und außerdem Lektorin bei einem Kinderbuchverlag, verhandelt, indem sie alles in winzige, machbare Schritte zerlegt. "Wenn ich nicht in der richtigen Stimmung bin, um mich einem neuen Projekt zu stellen, dann sage ich zu mir: "Mach nur den Computer an und schreib einen Absatz. Weiter nichts". Hat Elisabeth dann ihren einen Absatz geschrieben, gesellt sich nicht selten wie von allein ein zweiter und dritter hinzu, und ein Stück Arbeit ist geschafft, weil sie sich mit dem Trick, sich nur ganz wenig abzuverlangen, dazu überlistet hat.
"Damit will ich nicht behaupten, dass der Teil von mir, der schreibt, dumm ist, aber er lässt sich leicht zum Narren halten und bestechen", sagt sie lachend. "Ich verspreche ihm, "Nur zehn Minuten, Liebling", und dann sind es auf einmal vierzig.

"Aber ich verwöhne mein Schriftsteller-Ich auch. Ich mache ihm heiße Schokolade, oder kaufe ihm wirklich hübsche Briefmarken für die Briefe, die es fabrizieren soll. Im Wesentlichen versuche ich zu erreichen, dass Schreiben sich leicht machbar und alltäglich anfühlt."

Von der Kunst des Schreibens: Dieses Schriftstellerleben (2)

Als Schriftstellerin blicke ich auf alles aus einer gewissen Distanz, beobachte, wie etwas aus großer Entfernung auch mich zukommt. Das gilt nicht nur für das Wetter - es eilt auf Stelzen über die Eben heran -, sondern auch für Menschen, Ereignisse und Situationen. Ich genieße es, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, mir ein Bild von den Dingen zu machen, die im Kommen sind. Mir gefällt der Prozess, wenn nach und nach ein scharfes Bild entsteht.

Dieser Prozess des Scharfstellens ist für mich das Schreiben.

Es fängt an mit einem verschwommenen Bild, das ich genauer betrachten möchte. Schreiben ist dann wie das Drehen an einerm Fernglas und das Festhalten dessen, was sichtbar wird. Es ist eine Beschreibung des "Films in meinem Kopf", wie die Schreibwerkstattlehrerin Colleen Rae es nennt. Schreiben ist beobachten und aufzeichnen, nicht ausdenken.

Wenn wir uns unsere Wahrnehmung zugestehen, dann wird Schreiben zu einem freundlichen Helfer, der mit uns am gleichen Strang zieht. Es ist ein Tanz zwischen der Wirklichkeit und uns als Beobachter. Dieser Vergleich ist auch dann treffend, wenn das Geschriebene Fiktion ist. Wie der Sacred Mountain draußen vor meinem Fenster existiert und wirklich ist, so ist auch alles, was wir zu schreiben versuchen, wirklich und bereits existent. Unsere Aufgabe ist es, auf diese Existenz zu reagieren, sie in uns aufzunehmen und wiederzugeben. Unser Anteil besteht darin, aufmerksam zu sein.

"Ich weiß nicht, wie du das das schaffst", bekomme ich häufig zu hören, wenn ich gerade mit einem kreativen Pas de deux beginne, der anderen riskant erscheint - etwa mit einem neuen Buch, in dem es um einen altvertrauten Ehemann geht.
Ich schaffe "das", indem ich schreibe. Alles, was ich schaffe, schaffe ich mit Schreiben. Durch meine Schriftstellerei verdaue ich das Leben. Sie ist für mich die Nahrung meiner Gedanken und die Nahrung selbst. Wenn in meinem Leben eine schwierige Situation zu Tage tritt, dann schreibe ich daran ebenso wie ich darüber schreibe.

Schreiben ist Alchemie. Dieses Gedicht zu verfassen, führte mich heraus aus meiner verkrampften und verkopften Bitterkeit und hinein in mein weites Herz. Ich bin nicht mehr länger das Opfer, der Feind, die Verletzte. Ich bin wieder das, was ich bin: eine Schriftstellerin. Ich habe die Verletzung zu Kunst verarbeitet.

Schreiben ist Medizin. Es ist nützliches Gegengift gegen Verletzungen. Es ist ein nützlicher Gefährte in Zeiten gravierenden Wandels. Weil Schreiben gleichermaßen ein Mittel der Beobachtung wie der Phantasie ist, können wir angesichts von Veränderung gleichermaßen ängstlich wie neugierig reagieren. Indem wir über die Veränderung schreiben, tragen wir dazu bei, sie herbeizuführen, lassen sie geschehen, kooperieren mit ihr. Schreiben hilft uns, Einfluss auf unser Leben zu nehmen.

Wir können uns des Schreibens bedienen, wie ein Kameramann seines Objektivs: um Schärfe herzustellen und um die Dinge in eine andere Perspektive zu rücken. Wir haben die Möglichkeit, das Bild für eine Nahaufnahme heranzuzoomen. Oder aber wir ziehen uns zurück und stellen den Gegenstand unseres Interesses vor eine weite Landschaft. Wenn man Schreiben mit beobachten gleichsetzt, dann ist der Film unser Geist, der zugleich redigiert und die Filmmusik und Regieanweisungen hinzufügt.

Ich habe eine Freundin, die behauptet, wir alle bekämen den Gott, den wir verdienen. Was für eine beängstigende Aussage! Ich habe sie abgewandelt: Wir alle bekommen den Gott, mit dem wir etwas anfangen können. Ich bin Schriftstellerin, und deshalb habe ich die letzten dreißig Jahre damit zugebracht, mich durch Handlungen zu lavieren und neue Figuren zu begegenen. Ist es da ein Wunder, dass mein Gott hoch dramatische Wendungen beiträgt - Auftritte und Abgänge, die eines Films würdig wären? Schreiben hilft mir, diese Ereignisse auszuloten, ihre Entfaltung zu genießen.

Als ich meinen neuen Freund David kennen lernte, trat er zwischen dem Vorhang hindurch und streckte mir die Hand entgegen. Er trat durch den Vorhang ... Indem ich dies niederschreibe, erfasst mich ein Gefühl des Wiedererkennens: Ich hatte mein Leben mit einem Vorhand abgeschirmt. Ich hatte nicht erwartet, dass einer mutig genug sein würde, sich nicht abschrecken zu lassen. Aha, eine interessante Wendung der Ereignisse, eine Wendung, die mir dank einer Redewendung aufgefallen ist.

Eine Redewendung kann wie das Drehen eines Schlüssels im Schloss sein: Sie entriegelt die Tür, sie bringt den Motor zum Laufen. Schlüssel und Stift passen beide bequem in die Hand, und sie bedürfen auch beide nur der einfachsten Bewegung, um etwas in Gang zu setzen, Veränderungen zu bewirken ...

Ich tauche meinen Stift ins Lebens, so wie man ein Paddel in den Fluss taucht. Ich gebe Geschwindigkeit hinzu, wechsel die Richtung, schreite und gleite. Der Muskel meines Geistes liebt wie der Muskel meines Körpers das drängende Plätschern des kreativen Flusses. Er führt mich irgendwohin, doch ich forme meine Fahrt im Entstehen. Ich kann mich zurücklehnen oder vorwärts stürmen. Ich kann mich am Rand halten oder in die Stromschnellen in der Mitte vorstoßen. Es ist ein Abenteuer. Mir gefällt dieses Schriftstellerleben.

Nicht selten sind wir so sehr damit beschäftigt, uns ein Leben als Schriftsteller zu wünschen, dass wir ganz vergessen, über unser Leben zu schreiben.

Von der Kunst des Schreibens: Dieses Schriftstellerleben (1)

Vor dem Fenster meines Arbeitszimmers stehen die Pferde und warten darauf, dass ich ihnen ihr Futter zum Frühstück verabreiche. Sie sind hungrig und missmutig - sie fühlen sich so wie ich, wenn ich nicht schreibe. Ich habe ständig Lust zum Schreiben, denn es macht mir Freude. Selbst wenn ich meine, es gar nicht zu wollen oder nichts zu sagen habe, verführt es mich wie der erste linde Frühlingstag dazu, meine Tätigkeit zu unterbrechen und den Stift zur Hand zu nehmen.

Mir das Schreiben zu genehmigen löst große Glücksgefühle in mir aus. Nicht immer bin ich mit dem Ergebnis zufrieden und muss es ja auch gar nicht sein, aber schreiben muss ich schon.

Es verschafft mir eine enorme, simple Befriedigung - wie ein gutes Gespräch mit einer alten Freundin. In meiner Beziehung zum Schreiben tritt genauso ein "Ich" zu Tage wie in meiner Beziehung zu bestimmten Freunden, die mich zum Lachen bringen.

Vermutlich entdeckt der psychologisch interessierte Leser in der Liebe zum Schreiben eine gehörige Portion Narzissmus. Aber wen stört das? Meiner Meinung nach ist es unsere Aufgabe, mit Interesse durchs Leben zu gehen, und bei mir hält das Schreiben mein Interesse wach. Es ist so, als würde man nach der Vorlesung die eigenen Notizen mit denen von jemand anderem vergleichen.

Ich erlebe das Schreiben nicht als Monolog. Für mich ist es ein Gespräch. Schreiben bringt Fragen zum Vorschein, an die "ich" nicht gedacht hatte. Schreiben bietet "mir" eine neue Perspektive, eine andere und gewinnendere Art, die Dinge zu betrachten.

Der Dichter James Nave bezeichnet dies als "poetische Sichtweise". Er behauptet, dass sie uns allen zur Verfügung steht, wenn wir uns nur gestatten, die Poesie zu sehen, die uns überall umgibt. Er spricht davon, sich jeweils nur auf eine Minute zu konzentrieren, auf eine Sache, auf das, was gerade jetzt unser Interesse fesselt. Die Buddhisten bezeichnen diese Haltung als Achtsamkeit. Für mich ist es eine Achtsamkeit des Herzens, die Hören und Schaffen gleichermaßen beinhaltet. Schreiben ist somit das Schaffen eines hörenden Herzens.

Indem ich dies niederschreibe, wird mir bewusst, dass Leute, die über ihre Meditationspraxis sprechen, die gleichen Vorteile nennen: "Ich gewinne eine neue Sichtweise der Dinge." Und: "Ich habe so eine Art Eingebung".

Es stimmt, das Schreiben öffnet uns für Eingebungen, und sie sind meist sehr viel fassbarer als das bloße Verständnis. Indem wir mit der Hand über das Papier streichen, erschaffen wir unser Leben mit den eigenen Händen.

Wir teilen dem Universum mit, was wir mögen und war wir nicht mögen, was uns quält und was uns Freude bereitet. Wir sagen dem Universum und uns selbst, was wir gerne häufiger und was seltener hätten, und diese Klarheit setzt dann die Dinge in Bewegung.

Schreiben ist in gleichem Maß ein psychischer wie ein physiologischer Akt. Wenn ich "meine Gedanken ordne", dann gebe ich damit zugleich meinem Leben eine neue Struktur.

Eine Bekannte machte eine depressive Phase durch. Ein Geliebter, der ihr viel bedeutete, war einen halben Kontinent weit fortgezogen. Es war, als hätte er ihre Lebensfreude mit sich fortgenommen. Sie wurde krank. "Ich wollte nichts anderes, als mich für den Rest meines Lebens unter der Bettdecke verstecken", erzählte sie mir. Dann dachte ich, ich könnte ja auch etwas schreiben, wenn ich schon hier rumliege. Sobald ich zum Stift griff, ging es mir besser. Das Schreiben stellte für mich ein Mittel dar, meine Gefühle zu verarbeiten. Ich glaube, ich musste tatsächlich erst verdauen, was mir zugestoßen war, und das Schreiben half mir dabei.

Diese Bekannte empfindet das Schreiben als eine Verdauungsvorgang. Für mich ist es das auch, aber darüber hinaus noch sehr viel mehr. Für mich ist das Schreiben die Nahrung selbst. Ich brauche ein gewisses Mindestmaß davon, um gesund zu bleiben. Manche Menschen schreiben anfallartig, mir ist es am liebsten, wenn ich mich dreimal am Tag an den Schreibtisch setzen kann.

Ich schreibe tatsächlich so, wie ich auch esse: mit Appetit und Genuss.

Manchmal ist es ein Ereignis, dass ich genieße, oder sogar die Vorfreude auf ein Ereignis. Dann wieder ist es ein Satz, ein Gedanke, der mich neugierig macht und dem ich nachschmecke wie einer exotischen Frucht.

Von der Kunst des Schreibens: Schlechtes Schreiben

Man muss nicht immer wissen, wohin das Schreiben führt. Stimmt schon, in der Schule bringt man uns bei, unsere Gedanken wohl geordnet zu präsentieren - als ob sie so zu uns kommen würden. Als ob wir wirklich so denken würden. Das Schreiben das wir in den Schulen - jedenfalls in den meisten - lernen, bringt eine spröde, farblose, unpersönliche Prosa hervor. Anders als dieser Abend bietet sie gewiss keinen Raum für extravagante Blitze und schon gar nicht in Verbindung mit Wolken, die den Betrachter an Negligees von Carole Lombard erinnern.

Ein derartiger Schreibtstil - das vermeintliche "gute" Schreiben - ist so, als betrachte man einen Film zum zweiten Mal. Wir bewundern die Ausführung, doch die Auflösung entbehrt jeglicher Spannung, sie bewirkt nicht mehr, dass sich uns die Nackenhaare aufstellen, dass wir in Tränen ausbrechen oder den Atem anhalten vor Mitgefühl.

Um das zu erreichen, bedarf es manchmal des "schlechten" Schreibens.

So genanntes schlechtes Schreiben - wenn es gut ist - ist wie eine selbst gebackene Pizza. Manchmal war sie zu lange im Ofen und ist deshalb ein wenig zu knusprig. Manchmal ist sie zu reichlich belegt und deshalb etwas durchgeweicht, aber der starke Geschmack ist trotzdem unverkennbar. Sie hat Aroma. Ist würzig. Saftig.

Und deshalb muss ich, wenn ich ein wirklich guter Schriftsteller sein will, die Bereitschaft haben, schlecht zu schreiben. Ich muss es meinen Gedanken und inneren Bildern gestatten, ebenso unwidersprüchlich zu sein wie der Abend, der draußen vor meinem Fenster seine Feuerwerke abbrennt.

Anders ausgedrückt: Lassen Sie alles zu - selbst kleine Einzelheiten, die Ihnen gerade einfallen. Zum Sortieren ist später noch genug Zeit - falls überhaupt nötig.

Prosa profitiert manchmal von ein wenig reißerischem Flitter. Unterkühlte, sorgfältig glatt gebürstete, nur mit päpstlich genehmigten Ausrufezeichen versehene Texte, wie wir sie in der Schule zu verfertigen gelernt haben, langweilen viele von uns schon beim Schreiben zu Tode. "Wenn du etwas nicht schön formulieren kannst, dann lass es lieber weg", hat man uns beigebracht, und wir haben diese Maxime brav verinnerlicht. Wenn wir uns also die Genehmigung erteilen könnten, "schlecht" zu schreiben, dann würden etliche von uns ausgezeichnete Texte abliefern.

Ein Großteil beim so genannten "guten" Schreiben kommt einfach nicht von Herzen. Es wirkt kühl, kopfgeboren, kalkuliert und kalibriert. Deshalb lese ich gerne Revolverblätter. Klatschzeitungen sind voll von guten "schlechten" Texten. Wie eine Ausgabe eines Dickens-Auftragswerks für das einundzwanzigste Jahrhundert zwingen einen Klatschartikel förmlich zum Lesen.

Die verwickelte, ungebändigte Handlung ist so köstlich wie kalorienhaltiges Eis. Die Schönheiten sind allesamt "atemberaubend". Die Bösewichte "scheußlich". Opfer sind durch die Bank "hilflos" und "unschuldig". Und Mörder sind "Grauen erregend". In den Revolverblättern geht es anders als im wahren Leben immer um einen hohen Einsatz. Liebhaber werden hintergegangen, Ehefrauen betrogen. Verrat lauert hinter jeder Ecke - ebenso wie treue Hunde, die Ertrinkende aus den reißenden Fluten retten.

Die Regenbogenpresse findet weit mehr Leser als die New York Times. Sie schreibt über außersinnliche Wahrnehmungen, Rezepte für sicheren Sex, nach fünzig Jahren wiedervereinigte Zwillinge. Sie berichten von Menschen, die Engel sehen, die von kaum hörbaren Stimmen vor dem sicheren Tod bewahrt wurden, und von Katzen, die aus Treue ganze Kontinente durchqueren.

Ich kaufe meine Klatschzeitungen bevorzugt im Fünferpack. Ich lese nämlich gern fünf verschiedene Versionen zu den Schlagzeilen der Woche. The Globe, National Enquirer - welche trifft den Nagel auf den Kopf? Die kleinen Details verraten alles. Der blutige Fingerabdruck. Der winzige Handschuh. Der Brief, der nach siebenjährigem Herumirren endlich zugestellt wird.

Die Regenbogenpresse liebt Überraschungen - und uns geht es nicht anders. Doch genau diese Überraschungen wurden uns durch die Forderung nach "gutem" Schreiben ausgetrieben.

Sonntag, 20. September 2009

Von der Kunst des Schreibens: Sich abschotten (3)

Ich begutachte Bücher und Manuskripte schon seit gut meinem zwanzigsten Lebensjahr. Nichts ist schwieriger, als eine angemessene Buchbesprechung zu verfassen und dabei detailliert auf die Stärken des Buches einzugehen. Nichts ist einfacher, als ein Buch zu zerreißen und auf jede einzelne Schwäche mit dem Finger zu zeigen. Aus diesem Grund braucht der "Freund", der Ihr Manuskript liest, vielleicht ein wenig Unterweisung darin, was einen wohlgesonnenen Leser auszeichnet.

Es ist absolut statthaft, die Aushändigung eines Manuskripts an eine Bedingung zu knüpfen: "Ich möchte, dass du mir sagst, was dir gefällt und wovon du gern mehr sehen würdest. Bitte geh dabei auf konkrete Details ein." Wenigstens hat man so versucht, den Leser ins richtige Fahrwasser zu lenken.

Wir selbst müssen aus Liebe schreiben und wir müssen solche Menschen als Leser unserer Texte auswählen, die gleichfalls aus Liebe lesen - aus Liebe zum geschriebenen Wort. Die Freude daran, unsere Erfahrungen bei ihrem Namen zu nennen, muss letztendlich die Kraft sein, die uns darin steuert, was wir aufs Papier bringen. Wenn wir schreiben und dabei vor Angst vor Kritik erfüllt sind, dann erschweren wir unsere Vorankommen und beschneiden unsere Stimme. Indem wir Möchtegernkritiker statt Leseratten zu den Lesern unserer Texte machen, beschwören wir die Katastrophe schier herauf.

Man kann die Sorgfalt, die Sie an den Tag legen müssen, um Ihre Texte zu schützen, gar nicht genug betonen. Zwar haben wir in der Öffentlichkeit kaum irgendwelche Aussichten, die Aufnahme unserer schriftstellerischen Produkte zu kontrollieren, doch ist dies im privaten Bereich bis zu einer gewissen Grenze durchaus möglich. Fügen Sie sich durch die Auswahl Ihrer ersten Leser also keinen Schaden zu.

Auch wenn wir es selten so sehen, ist eine Schreibhemmung, im Grunde genommen eine gesunde Reaktion unseres inneren Schriftstellers auf eine gefährliche Bedrohnung.

Es ist überaus wichtig, dass wir uns ein paar wohlgesonnene Leser für unsere Arbeit erhalten, ganz unabhängig davon, was und wie viel wir veröffentlichen. Wir brauchen Menschen um uns, die ein Gedicht oder ein Essay um seiner selbst willen hören und dabei nicht an irgendwelche Schachzüge in Sachen Karriere denken. Unserem inneren Schriftsteller muss es gestattet sein, ungehindert und ohne ständig auf den Markt zu schielen, zu schreiben. Den Markt im Auge zu haben, ist Bestandteil des Schriftstellerlebens, doch wenn die Verkaufbarkeit eine zu große Rolle spielt, dann blockiert sie den Erfindungsreichtum und viele interessante Wege, weil sie - jedenfalls auf den ersten prüfenden Blick - nicht kommerziell nutzbar erscheinen.

Genau die Verletzlichkeit, die erforderlich ist, um offen und kreativ zu sein, setzt unsere Kreativität aufs Spiel. Aus diesem Grund muss sorgfältig darauf geachtet werden, "sichere" Leser und solche Menschen zu finden, die vor, während und nach dem Entstehen unseren Texten freundlich gegenüberstehen.

Mit etwas Glück und Hartnäckigkeit werden wir eines Tages mit einer Veröffentlichung erfolgreich sein - vielleicht sogar sehr. Sobald der Fall eintritt, sind sichere Freunde sogar noch wichtiger. Der innere Zensor wacht nämlich beim leichsesten Anflug von Erfolg und ruft: "Zufall! Nichts als Zufall! Ein zweites Mal gelingt dir das nie und nimmer!" Genau jetzt werden Freunde gebraucht, die dann besänftigend sagen:" Hör mal. Du warst vor diesem Erfolg ein guter Schriftsteller, und du bis noch immer ein guter Schriftsteller. Schreib einfach weiter."

Liebenswürdigkeit, Ermutigung, Sicherheit - das sind die Losungen, die Kritik ersetzen sollten. Seit dreißig Jahren schreibe ich. Mir ist mehr von schlechter Kritik vernichtendes gutes Schreiben untergekommen als von guter Kritik gefördertes schlechtes Schreiben. Ich habe erlebt, wie wertvolle Bücher von zu vielen Lektoren bis zur völligen Zerstörung auseinander genommen wurde. Ich habe erlebt, wie sich Theaterstücke gut entwickelten, nur um schließlich von den Korrekturvorstellungen anderer zugrunde gerichtet zu werden.

"Die erste Regel der Magie ist Abgrenzung", das ist ein metaphysisches Gesetz. Nirgendwo hat dieses Gesetz mehr Berechtigung als bei unserem Schreiben.

Von der Kunst des Schreibens: Sich abschotten (2)

Dass unsere Leser in Begeisterung geraten, mag daran liegen, dass sie zum Beispiel generell uns oder das Lesen allgemein gut finden, und auch das ist gefährlich. Wenn wir zu eifrig sind und ihnen ein wertvolles Stück Arbeit in die Hände geben, dann gefährden wir den Fortgang unserer Arbeit. Unser Energiekonto wird überzogen. Die Energie, die wir zum Schreiben nutzen sollten, muss stattdessen aufgewandt werden, um unseren Text zu verteidigen und zu entscheiden, ob unser Kritiker "Recht hat" oder nicht.

Schreiben ist ein Akt der Verbindungsaufnahme, doch wird zuerst die Verbindung zum Selbst und dann die zur Welt hergestellt.

Um uns im Selbstausdruck zu üben, müssen wir sorgsam darauf achten, die richtige Reihenfolge einzuhalten. Wir müssen das Selbst, das wir zum Ausdruck bringen wollen, beschützen. Wir müssen unseren inneren Schriftsteller vorsichtig behandeln, denn er ist wertvoll.

Schreiben ist Kommunikation, das stimmt, doch diese Kommunikation beginnt im Inneren. Das Selbst kommuniziert mit dem Schriftsteller und umgekehrt. Das Wesentliche dabei ist, was der Schriftsteller der Welt mitteilt. Wenn die Welt zu bald unterbrechend darf, dann zieht sich das Selbst zurück. Der Verstand bleibt zugänglich und schreibt immer raffinierter und defensiver, doch es entschwindet die Seele aus dem Geschriebenen. Der Geist des Geschriebenen kommt auf unsicheren Beinen daher. Was gesagt wird, hört sich zwar gut an, aber es klingt nicht wahrhaftig. Das Geschriebenes wahr klingt, muss es im Inneren nachhallen. Damit das Geschriebene im Inneren nachhallen kann, darf es nicht zu vielen äußeren Einflüssen ausgesetzt sein. Und wenn schon äußere Einflüsse vorhanden sind, dann sollten sie wohlwollend sein.

Was verstehe ich unter einem wohlwollenden Einfluss? Ich meine einen Einfluss, der Wachstum fördert, statt es an den Wurzeln auszureißen. So war Kritik ursprünglich auch gedacht - doch das ist in Vergessenheit geraten. Als Kritik noch eine Kunst war und keine feindliche Position, da versuchte sie noch, mit ihren Kommentaren zu formen und zu ermutigen. Geschult an der literarischen Tradition und vertraut mit den größten Literaten, vermochte sie oft viel versprechende neue Arbeit zu erkennen wie ein Gärtner, der einen wertvollen Sämling in seinem Garten entdeckt. Moderne Kritiker sind in dieser Kunst nicht mehr ausgebildet. In unseren Schulen und in den Medien werden wir dazu angehalten, Kritik zu üben, aber keiner sagt uns, wie man das richtig angeht.

Als Lehrerin für kreatives Schreiben habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Schwächen eines Schülers langsam verschwinden, wenn ich seine Stärken lobe. Konzentriere ich mich aber auf seine Schwächen, dann geraten mit ihnen vielleicht auch seine Stärken ins Wanken und verschwinden. Ein junger Schriftsteller ist ein junges Pferd. Die Gangarten müssen entwickelt werden, bevor man sie perfektionieren kann. Ein junges Pferd würden wir auch nicht jedem x-beliebigen Zureitener anvertrauen, genau wenig sollten wir deshalb unser Geschriebenes irgendeinem Kritiker überlassen. Doch damit meine ich nicht, dass wir uns nur Profis anvertrauen dürfen. Viele professionelle Kritiker haben gar kein persönliches Interesse.

Ein Amateurleser kann wertvolles Feedback geben. (Schließlich leitet sich das Wort "Amateur" vom lateinischen amare ab: lieben.) Der ideale Leser für Sie ist also jemand, der gerne liest und zudem eine positive Einstellung der Tatsache gegenüber hat, dass Sie Ihre schriftstellerischen Fähigkeiten entwickeln wollen.

Von der Kunst des Schreibens: Sich abschotten (1)

Ich greife mal ein Kapitel vorweg, welches ich für wichtig halte:

Julia berichtet davon, dass sie einen talentierten jungen schottischen Schriftsteller kennen gelernt hat. Er war gerade im Begriff, seine ersten Erfahrungen zu sammeln. Er strotzte nur so vor Worten, Energie und Einfallsreichtum. Sie bat ihn, etwas zu schreiben und ihr dann zuzuschicken, was er auch tat. Allerdings folgte danach nichts mehr.

Ich habe ein paar von meinen Freunden meine Geschichten gezeigt. Sie gefielen ihnen nicht besonders. Sie meinten, sie seien nicht verständlich, antwortete der junge Schriftsteller unglücklich. Seitdem sind mir keine neuen Geschichten mehr eingefallen.

Julia: Wie konnten diese so genannten "Freunde" es wagen, eine kreative Leistung zu kritisieren, die so stark und lebendig und viel versprechend war? Wer glaubten sie eigentlich, dass sie waren - Literaturkritiker etwa?

Die beste und seltenste Form von Kritik ist konstruktiv, und nur die wenigsten Menschen wissen, wie man sie anbringen kann. Da dies nun einmal so ist, scheint es das Vernünftigste zu sein, sich bei ersten Schreibversuchen und bei allen Entwürfen in Abschottung zu üben.

Du musst dich abschotten, riet ich deshalb dem jungen Schriftsteller. Hör auf, deine Geschichten überall herumzureichen, und gib sie schon gar nicht deinen Freunden. Dieser junge Schriftsteller musste nur noch richtig in Gang kommen - mehr brauchen wir Übrigen eigentlich auch nicht - , und außerdem benötigte er ein wenig Ermutigung und ein Geführ von Sicherheit. Das bedeutet nicht, dass ästhetische Gesichtspunkte unbedeutend sind. Es heißt vielmehr, dass wir Zeit und Raum brauchen, um unser eigenes ästhetisches Gefühl zu finden, und das kann nicht geschehen, wenn wir mit Stammtischkritik und künstlerischen Mehrheitsbeschlüssen unmittelbar konfrontiert werden.

Die Frage "Wie findet du meinen Text?" darf immer erst nach der Frage "Wie finde ich meinen Text?" kommen.

Jeder Mensch besitzt einen kreativen Kern, den es genau auf die gleiche Weise zu schützen gilt. Ich betrachte meine Kreativität als meinen wertvollsten Besitz. Sie ist mein Reichtum. Mir ist das bewusst, und deshalb beschütze ich sie auf die gleiche Weise, wie auch ein kluger Mann vernünftig und konservativ investiert, um sich seinen Reichtum zu bewahren.

Da der Schriftstellermythos uns jedoch glauben macht, dass alle Künstler von Natur aus wild und sorglos sind - warum sollten wir und dann hier plötzlich um finanzielle Belange kümmern? Warum Konservativismus fordern? Weil wir alle im Inneren reich sind und weil wir diesen Reichtum ebenso verprassen können, wie ein Dummkopf ein Vermögen verpulvert.

Wie verprassen wir unseren Reichtum? Zunächst einmal, indem wir unsere Arbeit zu früh und wahllos herzeigen. Wir bewerten unser wertvolles Schreiben nicht ausreichend. Wir klassifizieren unseren Leser nicht auf die gleiche Weise, wie eine Bank es bei einem Invenstor tun würde. Wir halten nicht inne, um die Qualifikation des ambitionierten Lesers infrage zu stellen. In unserem Bestreben, Leser zu finden, reißen wir einfach die Stadttore auf. Das ist so, als würden wir einer Zufallsbekanntschaft Zugang zu unserem Konto einräumen.

Wer sein Geschriebenes ihm feindlich gesonnenen oder anspruchslosen Lesern gibt, begeht den gleichen Fehler wie jemand, der einer Person mit bekanntlich schlechten Finanzmitteln sein Geld leiht. Für uns springt nicht das dabei heraus, war wir uns vorgestellt haben. Unsere Arbeit findet keine Wertschätzung.

Diese Leute werden mit gefährlichen Extremreaktionen aufwarten: "Einzigartig!" oder "Grauenhaft!" (Landjährige Erfahrung lehrt, das Extreme jeglicher Art, ob positiv oder negativ, den Schreibprozess gefährden, weil die Gehemmtheit erzeugen.)

Sonntag, 30. August 2009

Von der Kunst des Schreibens: Eine Spur legen (2)

Nun, da ich mir Unvollkommenheit erlaubte, wurde mein Schreiben glatter. Befreit von dem Anspruch, beim ersten Entwurf brillant, vollkommen und klug zu sein, wurde mein Schreibstil zugleich auch leichter und klarer. Wenn ich mich dann ans Polieren und den Feinschliff machte, stellte ich fest, dass es gar nicht so viel zu verbessern oder zu verändern gab. Ein bemerkenswert hoher Anteil meiner ersten Rohentwürfe hielt der Überprüfung stand.

Bis zu diesem Zeitpunkt war mir entgangen, dass die ganze Dramatik, mit der das Schreiben für mich umgeben schien, selbst geschaffen und vollkommen überflüssig war. Mir war nicht klar gewesen, dass das Drama, das ich aus dem Schreiben machte, mit dem Drama, über das ich schreiben wollte, absolut nichts zu tun hatte.

Der Abbau dieses Dramas erfüllte mich mit einer Erleichterung, wie sie auch das Entladen einer Schusswaffe bewirkt hätte. Ich hörte auf, mich misstrauisch zu belauern. Wo immer ich jetzt anfing, da fing ich eben an. Mir war plötzlich wieder eingefallen, dass mir das Schreiben früher einmal Spaß gemacht hatte.

Meine Aufgabe war zu schreiben und nicht, das Geschriebene ständiger Kritik zu unterziehen.

Ich kam zu dem Schluss, dass das Schreiben einen eigenen inneren Plan aufzuweisen schien.

Für mich ist Schreiben so, als verfolgte ich in meinem Kopf eine Melodie. Sie weiß selbst, wo sie - einen Ton nach dem anderen - hin will. Ich folge dieser Melodie und schreibe sie auf. Für das Zuschneiden, Formen, Polieren ist später noch Zeit. Im Augenblick besteht meine Aufgabe allein darin, den Gedanken festzuhalten und einzufangen, den ich auch später noch ausführen und ausschmücken kann.

Im Laufe der Jahre habe ich herausgefunden, dass sich im Unterbewusstsein des Künstlers eine Struktur oder eine Form wie ein Kristall ausbildet. Stück für Stück und ganz langsam wächst in der Dunkelheit eine prachtvolle Formation heran. Meine Aufgabe ist es, diese Stücke einzufangen - sie in freien Assoziationen, wenn Sie so wollen, aneinander zu reihen, und mir bewusst zu sein, dass diese Assoziationen ihre eigenen Vorstellungen darüber haben, wohin das alles führen soll.

Ich umkreise eine Idee und mache mir dabei Notizen. Wenn mir unterdessen etwas in den Sinn kommt, dann lasse ich es zu Wort kommen. Neugierig will ich herausfinen, wohin jeder vermeintliche Umweg mich zum Schluss tatsächlich führt. Inzwischen gestatte ich es den Strukturen, sich nach eigenem Gutdünken zu offenbaren, anstatt von ihnen einen sofortigen logischen Fluss zu verlangen.

Ich habe begriffen, dass mein logischer Verstand nicht für den Entwurf, sondern nur für die Überarbeitung taugt. Für das Legen der Spur ist meine reiche, verrückte, fruchtbare Gehirnhälfte verantwortlich.

Ich sorge mich nicht darum, ob ich in eine Sackgasse gerate. Die meisten Sackgassen führen schließlich doch irgendwohin, und falls es sich nur um eine Ausweglosigkeit handelt, mir der ich mich selbst in die Enge treibe und die mich veranlasst, etwas Unerwartetes zu äußern, dann ist das auch in Ordnung.

Ich weiß, dass es Leute gibt, die gleichzeitig schreiben und am Feinschliff arbeiten. Ich mache es anders. Ich stelle mir vielmehr vor, dass ich eine Spur von Punkt A nach Punkt B lege. Jeden Tag versuche ich, mich wenigstens ein paar Minunten lang mit dem Legen meiner Spur zu befassen. Ich schreibe mir nicht vor, wie weit ich mit meiner Spur kommen muss.

So hatte ich es früher gemacht, dabei aber mein Ziel nicht so hoch gesteckt: drei Seiten für ein Theaterstück und anderthalb Seiten Prosa. Für mich war das ein erreichbares Ziel. Kurz gesagt, es bedeutete, dass ich eine Spur legte.

So mancher macht sich Sorgen, wie er denn wohl die beste Spur legen könnte. Für meine Begriffe geht das ein wenig zu weit. Um die "beste" Spur geht es erst bei der Überarbeitung.

Im Entwurf gelangt man von A nach B, durchquert einfach das Gelände. Entwürfe, die ihre eigene Form finden dürfen, kommen der besten Spur häufig von ganz allein sehr nahe.

Zu planvolles und zu elaboriertes Schreiben wirkt leicht kraftlos. Spätere Fassungen sorgen dann für das nötige "Fleisch".

Wie viel besser ist man doch dran, wenn man einen ungebärdigen, mit Details gespickten Entwurf hat, den man formen und zähmen kann, der uns zwingt zu entscheiden, was wir beibehalten wollen, und nicht, was wir noch hinzufügen müssen.

Falls Sie zweifeln, dann lassen Sie das Textstück drin. Verfremden Sie es, wenn es sein muss, aber lassen Sie es stehen.

Schreiben ist groß - groß genug, um alles zu umfassen, was Ihnen in den Sinn kommt. Schreiben ist leidenschaftlich. Leidenschaftlich genug, um sich jede beliebige Stimmung oder Laune, in der Sie sich gerade befinden mögen, zu behaupten.

Schreiben - und das ist das große Geheimnis - will gelebt werden. Das Schreiben liebt den Schriftsteller ebenso wie Gott einen wahren Gläubigen liebt.

Das Schreiben wir Ihr Herz finden, wenn Sie ihm nur eine Chance geben. Es wird Ihre Seiten füllen und Ihr Leben bereichern.

Von der Kunst des Schreibens: Eine Spur legen (1)

Bestimmt lässt sich der Sachverhalt kunstvoller zum Ausdruck bringen, ich jedenfalls bezeichne ihn als "eine Spur legen".

Meiner Meinung will das, worüber wir schreiben möchten, auch niedergeschrieben werden.

Wie ich den Schaffensdrang verspüre, so verspürt auch das Etwas, das ich schaffen will, den Impuls, geboren zu werden.

Es ist also meine Aufgabe, mich an den Schreibtisch zu setzen und dieses Etwas durch mich hindurch auf das Papier vor mir fließen zu lassen. In gewisser Weise geht es mich gar nichts an, was dieses Etwas ist, das da aufgeschrieben werden will.

Zu Beginn meiner Schriftstellerkarriere versuchte ich, den Feinschliff schon beim Schreiben zu erledigen. Jeder Satz, jeder Absatz, jede Seite sollte sich in einem Guss aus dem Vorangegangenen entwickeln und darauf aufbauen.

Ich dachte viel über all das nach. Ich arbeitete hart an meinen Texten. Ich plagte mich mit meiner Schriftstellerei ab. Für mich bedeutete mein Beruf viele Stunden am Schreibtisch, hartnäckig schreibend, umschreibend, ausstreichend und wieder einfügend. Diese Art zu schreiben war frustrierend, schwierig und entmutigend. Als versuchte man, ein Drehbuch zu verfassen und gleichzeitig den Schnitt zu bewerkstelligen.

Problematisch an meinem gleichzeitigen Schreiben und Redigieren war auch die Tatsache, dass das Ergebnis von meiner Stimmung abhing.

War ich offen, dann was alles, was ich zu Papier brachte, großartig. Sah ich die Welt wie zwischen Scheuklappen hindurch, dann taugte gar nichts.

Mein Schreiben war einer Achterbahnfahrt aus Freisprüchen und Verurteilungen unterworfen: schuldig oder unschuldig, gut oder schlecht, Kopf ab oder ungeschoren davongekommen. Ich wünschte mir eine vernünftigere, weniger extreme Vorgehensweise. Ich brauchte emotionale Nüchternheit.

Mit diesem Ziel vor Augen lernte ich, mich allein auf das Schreiben zu konzentrieren und mir die Beurteilungmeiner Produkte und das "Polieren" für später aufzuheben.

Diese neue, freiere Art des Schreibens bezeichne ich als "Spur legen". Zum ersten Mal erteilte ich mir die emotionale Genehmigung, Rohentwürfe zu produzieren, die auch wirklich roh sein durften.

Samstag, 29. August 2009

Von der Kunst des Schreibens: Die Zeitlüge

"Wenn ich ein Jahr frei hätte, dann würde ich einen Roman schreiben!"

Wer Schreiben zur Hauptsache erhebt, macht Schreiben schwierig. Wer es nebenher betreibt, hält es im Fluss. Nirgends trifft diese Erkenntnis mehr zu als in Verbindung mit der Zeit.

Eine der am weitesten verbreiteten Legenden über das Schreiben besagt, dass man dazu große zusammenhängende Zeitblöcke benötigt. Was mich betrifft, so standen mir nie derartige endlos ergiebige, seidene Stoffballen an Zeit zur Verfügung. Mein Leben - und alles, was ich in seinem bisherigen Verlauf produziert habe - hat mehr Ähnlichkeit mit dem Herstellen einer Patchwork-Decke als mit dem Abrollen eines unendlichen Siedenballens.

Der Mythos, dass wir Zeit - mehr Zeit - brauchen, um schöpferisch tätig sein zu können, hält uns davon ab, die Zeit zu nutzen, die uns zur Verfügung steht. Wenn wir immer nur nach "mehr" verlangen, dann negieren wir das Vorhandene.

Mein Dasein als allein erziehende Mutter, hauptberufliche Lehrerein und hauptberufliche Schriftstellerin hat mich gelehrt, mir die Zeit zum Schreiben zu nehmen, statt auf sie zu warten. Mir Zeit nehmen, genau das tue ich jetzt auch. Es klappt, wenn man die Gelegenheit beim Schopf packt.

Für die meisten vervollständigt sich der Satz "Wenn ich doch nur genug Zeit hätte" durch die verführerische und unausgesprochene Ergänzung "mich selbst denken zu hören". Mit anderen Worten: Wir meinen, wenn wir genug Zeit hätten, dann gelänge es uns, unsere oberflächlicheren Persönlichkeitsanteile zu stellen, und dann könnten wir endlich dem tiefgründigeren Fluss der Inspiration lauschen.

Auch dies ist lediglich eine Legende, die uns entlasten soll - wenn ich nur lang genug warte, wenn ich genug Zeit zum Zuhören habe, dann muss ich mich nie dem öffnen, das schon heute in mir nach oben steigt und dafür die Verantwortung übernehmen.

Die Zeitlüge ist ein bequemes Mittel, uns sich der Tatsache zu verschließen, dass auch Romane Satz für Satz geschrieben werden müssen. Sätze können innerhalb von Augenblicken entstehen. Genug solcher gestohlener Augenblicke, genug gestohlene Sätze, und ein Roman ist vollendet - und zwar ganz ohne den Luxus unbegrenzter Zeit.

Wenn wir Freiräume schaffen, dann können wir jederzeit und überall schreiben.

Sobald wir den Kunstkniff beherrschen "wie man sich in die Quelle fallen lässt", den ich lehre - ich halte dazu meine Schüler an, jeden Morgen zuerst einmal drei Seiten voll zu schreiben -, können wir unsere Quelle jederzeit und überall finden: im Wartezimmer beim Zahnarzt, im Flugzeug, während wir auf jemanden warten, den wir abholen, in der Mittagspause, beim Friseur, am Küchentisch, während die Zwiebeln dünsten ...

Wer aus reiner Liebe zur Schriftstellerei schreibt, der findet immer genug Zeit - so wie auch Liebende immer Zeit finden für einen Kuss zwischendurch.

Zeit zum Schreiben finden wir somit immer dann, wenn wir es aus Liebe zur Schriftstellerei tun, und nicht, weil wir bereits auf das Endresultat schielen.

Versuchen Sie nicht, etwas Vollkommenes zu produzieren; schreiben Sie einfach drauflos.

Versuchen Sie nicht, ein ganzes Megilloth zu vollenden, machen Sie erst einmal einen Anfang.

Ja, die Vorstellung ist erschreckend, wie viel Zeit man für das Schreiben eines ganzen Romans finden müsste. Viel weniger beängstigend ist es, Zeit für einen Absatz oder einen Satz zu erübrigen. Und jeder Roman setzt sich schließlich nur aus Absätzen, und diese wiederum aus Sätzen zusammen.

Wir alle haben Zeit zum Schreiben. Wir haben Zeit zum Schreiben, sobald wir uns damit zufrieden geben, schlecht zu formulieren, in einer Sackgasse zu enden, jedes Mal nur ein paar Sätze aufs Papier zu bringen und einfach nur um des Schreibens willen zu schreiben, anstatt ein vollkommenes, geschliffenes Resultat anzustreben.

Die Obsession mit dem Zeitmangel ist in Wirklichkeit nichts anderes als Perfektionismus. Wir wollen genug Zeit, um vollendet zu schreiben.

Und fehlt der Mut, ohne Sicherungsnetz zu arbeiten, und wir behaupten, dass wir doch nicht so dumm sind, um Zeit auf etwas zu verschwenden, das sich am Ende gar nicht auszahlt.

Wenn wir aus Liebe schreiben, uns selbst Augenblicke des Schreibens schenken, dann wird unser Leben schöner und unser Temparament sanfter. Wir sind nicht mehr länger neidischer Zuschauer, die am Rand stehen und murmeln: "Ich würde ja auch so gerne, aber ...".

Die Lügen, die wir uns selbst über das Schreiben und die Zeit auftischen, haben alle etwas mit Neid zu tun und mit dem Märchen, dass es die anderen leichter haben, dass sie über mehr Finanzmittel verfügen und über bessere Förderung als wir selbst. Um Zeit zum Schreiben zu finden, müssen Sie in Ihrem jetzigen Leben Zeit dafür schaffen - das ist der Kunstkniff. Das ist Ihr Anhaltspunkt.

Jedes Leben ist ein Schriftstellerleben, denn wir alle können Schriftseller sein.

Schreiben bringt vieles ins Lot.

Wer sich Zeit zum Schreiben nimmt, dem steht Gutes bevor. Indem wir unsere Umgebung beschreiben, wenden wir uns ihr bewusst zu und wissen sie besser zu schätzen. Selbst ein Leben, das aus nichts als Hast und Durcheinander besteht, erstrahlt plötzlich in einem ganz neuen Glanz, weil es gewürdigt wird.

Dienstag, 25. August 2009

Von der Kunst des Schreibens: Hören Sie zu

Wie wichtig ein guter Orientierungssinn ist, stellt eine der tiefsten und einfachsten Wahrheiten dar, die ich dank des Schreibens gelernt habe.

Ziel des Schreibens ist es, etwas Vorhandenes auszudrücken, und nicht, sich etwas einfallen zu lassen.

Immer wenn ich versuche, mir etwas einfallen zu lassen, verwandelt sich Schreiben in eine Anstrengung. Es wird zu etwas, nach dem ich mich strecken muss, und manchmal ist es so hochfliegend, dass ich es nicht zu erreichen vermag. Wenn ich mir etwas einfallen lassen will, dann muss ich mich mühen. Konzentriere ich mich andererseits aber darauf, etwas Vorhandenes in Worte zu fassen, dann wird mir Aufmerksamkeit nicht aber Anstrengung abverlangt.

Um es anders auszudrücken: Man könnte auch sagen, dass das Schreiben mehr dem Empfang eines Diktates als dem Diktieren ähnelt. Wenn ich auf das höre, was da ist, und es niederschreibe, dann muss ich den Ideenfluss nicht erzeugen, sondern lediglich aufzeichnen. Ringe ich jedoch mit dem Schreiben, dann liegt es daran, dass ich zu sprechen versuche, anstatt zuzuhören.

Sobald das Schreiben zu einem Akt des Zuhörens und nicht des Sprechens wird, tritt das Ego weitgehend in den Hintergrund. Anstatt selbstbewusst über den Satz nachzudenken, den "ich" niedergeschrieben habe, beobachte ich mich vielmehr dabei, wie mich die Sätze, die auf ihre Formulierung förmlich zu lauern scheinen, in Erstaunen versetzen und interessieren.

Auf diese Weise verwandelt sich hochtrabendes Gerede in einen Offenbarungsakt. Diese Beobachtung trifft auf jeden Schriftsteller zu, der das Schreiben mit sich geschehen lässt. Wir als Schriftsteller können uns ebenso wie die Leser überraschen lassen, was als Nächstes kommt.

Wenn es beim Schreiben um das Wichtige geht, das wir zu sagen haben, dann belastet uns die Sorge, dass der Leser es womöglich nicht "kapiert" - nicht begreift, wie großartig wir eigentlich sind. Geht es beim Schreiben jedoch um den Prozess, einen sich entfaltenden Gedanken nach dem anderen niederzuschreiben, dann hat es weniger mit unserer Großartigkeit als vielmehr mit unserer Genauigkeit zu tun.

Wie sorgsam hören wir hin? Wie viel Kontrolle sind wir bereit aufzugeben, um der Kreativität freien Lauf zu lassen, statt sie für die Ziele unseres Egos einzuspannen? Wollen wir uns einen Handlungslauf aus den Fingern saugen oder ihn in die Finger fließen lassen?

Es steht uns frei, uns etwas einfallen zu lassen und dann darüber zu schreiben oder über das zu schreiben, was uns gerade zufällig in den Sinn kommt.

Wir können uns mit dem Anspruch abquälen, gut zu schreiben, oder wir geben uns mit dem zufrieden, was offenbar gerade in uns zum Vorschein kommen will - egal ob es gut, schlecht oder unbedeutend ist.

Die meisten Menschen verlangen von sich, gut zu schreiben, und deshalb empfinden sie den Akt des Schreibens als anstrengend. Wir verlangen von uns dann nämlich nicht ein, sondern zwei Dinge: Wir wollen uns mitteilen u n d unsere Leser zugleich beeindrucken. Ist es dann ein Wunder, dass unsere Prosa sich angesichts dieser doppelten Aufgabe bockig zeigt?

Von allen Autoren, die sich über das Schreiben äußern und die ich gelesen habe, erscheint mir Henry Miller als der aufrichtigste und uneigennützigste und auch am wenigsten mit der eigenen Legendenbildung beschäftigt zu sein. Miller rät: "Entwickeln Sie Interesse am Leben, wie Sie es wahrnehmen; an Menschen, Dingen, Literatur, Musik - die Welt ist so reich, sie platzt geradezu vor lauter Schätzen, einzigartigen Seelen und interessanten Menschen. Lassen Sie sich selbst beiseite."

Wenn man "sich selbst beiseite lässt", dann fällt das Schreiben leicht.

Wir stehen nicht wie die Soldaten mit dem einzigen Ziel Gewehr bei Fuß, unser ganzes Ego nur ja in jedem "ich" unterzubringen. Lassen wir uns selbst außen vor und hören wir auf, gut sein zu wollen, dann erfahren wir, wie es ist, wenn das Schreiben fließt. Wir ziehen uns als selbstbewusste Schriftsteller zurück und werden zum Vehikel des Selbstausdrucks.

Oft schreiben wir sehr gut, sobald wir zum Vehikel, zum Geschichtenerzähler geworden sind. Auf jeden Fall aber fällt uns das Schreiben dann leichter.

Montag, 24. August 2009

Von der Kunst des Schreibens: Schreiben Sie einfach

Unsere Vorstellung von der Schriftstellerei ist mit einer Menge Ballast beladen. Wörter zu Papier zu bringen, ist für uns eine Riesenangelegenheit. Wir meinen, Schreiben sei eine Qual, und versuchen es erst gar nicht. Und wenn wir es doch probieren und es geht unerwartet leicht, dann erstarren wir und sagen uns, dass das ja wohl kaum das "echte" Schreiben sein kann.

Mit echtem Schreiben meinen wir den Akt, um den sich all die vielen Geschichten ranken. Wir meinen nicht die Darstellung eines Abends, wie ich ihn heute verbracht habe: ein Abendessen mit meiner lieben Freundin Dori, das anschließende gemeinsame Ansehen des Films Il Postino auf Video, die herzliche Verabschiedung von Dori an einem noch kaum angebrochenen Abend, und mein Hinüberwandern in mein Büro, um dort, während mein Hund Maxwell sich an meine Füße kuschelt, noch ein wenig zu schreiben.

Diese Art Schriftstellerdarsein ist einfach zu alltäglich, zu mühelos, zu normal. Es ähnelt zu sehr dem Leben aller anderen Menschen - nur mit ein wenig Schreiben gewürzt. Aber wenn Schriftsteller so leben, dann stünde dieser Weg ja möglicherweise vielen offen. Wenn Qualen keine Grundvoraussetzung sind, wenn es sich beim Schreiben gar nicht um eine unsoziale Tätigkeit handelt ...

Warum sollten wir das Schreiben eines Romans als etwas empfinden, dass außerhalb unserer Reichweite liegt - ein Hobbytischler wagt sich ja auch an die Herstellung einfacher Möbelstücke heran. Was wäre, wenn Schreiben gar nicht zwangsläufig mit dem Anspruch auf herausragende Qualität einherginge? Was wäre, wenn wir einfach nur aus Freude schreiben?

Viele Menschen hätten Spaß am Schreiben, wenn sie nur ihren Anspruch auf Anerkennung aufgeben könnten. Die übliche Legendenbildung enthält uns solche Tatsachen meistens vor, aber Schreiben macht tatsächlich Spaß.

Wenn Leute sich ans Schreiben wagen, dann geht es selten darum, etwas zu Papier zu bringen, sondern die Zielsetzung lautet vielmehr, "Schriftsteller zu werden". Nur liegt die eigentliche Aussage hinter dieser Formulierung vollständig unter Mythen, Gehemniskrämerei und absolutem Unsinn verschüttet.

Die eigentliche Aussage, dass nämlich der Akt des Schreibens einen Menschen zum Schriftstelller macht, kommt vielen dabei am wenigsten in den Sinn. Stattdessen haben wir so Vorstellungen wie "Richtige Schriftsteller werden veröffentlich" oder "Richtige Schriftsteller können von ihrer Arbeit leben". Auf gewisse Weise bringen wir damit zum Ausdruck: "Ein richtiger Schriftsteller ist man erst dann, wenn einen andere als solchen anerkannt haben".

Ist es bei einer derartigen Legendenbildung und bei einer so ausgesprägten Produkt- statt Prozessorientiertheit ein Wunscher, dass der strebsame Schriftsteller von Angst gepackt wird?

Wer sich zum ersten Mal ans Papier heranwagt, der macht häufig eine unangenehme Erfahrung: Plötzlich ist der gewohnte Redefluss wie ausgetrocknet. Jedes einzelne Wort kommt einem vor wie eine Verpflichtung, muss aufs Genaueste überprüft werden und entwickelt ein verstörendes Eigenleben. Die leere Seite scheint größte Ernsthaftigkeit einzufordern.

Wörter, die gerade noch vollkommen in Ordnung waren, wirken nun auf einmal unangebracht. Wir haben den Begriff "Entwurf" vergessen und meinen, dass alles, was wir produzieren, als geschliffener und polierter Edelstein zum Vorschein kommen muss. Wir machen einfachen Fehlgriffen, umgangssprachlichen Ausdrücken und selbst charmanten Umständlichkeiten jeglichen Raum streitig. Plötzlich sitzen wir wieder in der Schulbank, und uns fallen all die Regeln ein, die wir einmal in Sachen guter Schreibtstil gelernt haben: Gliederung, Themenbezug, Satzbau ...

Die meisten Menschen glauben von sich, dass sie nicht schreiben können. Wir meinen, Schreiben sei etwas, das andere, das "Schriftsteller" tun. Und selbst wer die fröhliche Begabung des Anfängers und die wilde Begeisterung des Amateuers besitzt, spart den Begriff auf, um damit das Talent "echter Schriftsteller" zu bezeichnen - für Leute, die ihre Gedanken wie kleine Soldaten aufmaschieren lassen und ihre logischen Absätze in aufeinander folgenden geistsprühenden Wellen befehligen wie Armeen beim Sturm auf die Normandie.

Aber das muss nicht so sein.
Wenn wir auf das Wort "Schriftsteller" verzichten, wenn wir einfach zurückkehren zum Schreiben als Akt des Beobachtens und Benennens, dann lösen sich einige der unbequemen Regeln auf. All die Dinge, die wir beobachten, die wir hören und dann auf Papier festhalten, haben ihre ureigene organische Form. Diese Form offenbart sich uns, wenn wir aufmerksam hinhören. Es ist nicht notwendig, den Dingen eine fremde Form überzustülpen. Ihre Gestalt ist fest mit ihnen verbunden. Wenn wir uns diesen Zusammenhängen einfach öffnen, dann machen wir unsere Sache auch "richtig".

Von der Kunst des Schreibens: Aller Anfang ...

... Der erste Kunstkniff, den ich jetzt gerade zur Anwendung bringe, besteht darin, dass man genau dort anfängt, wo man sich gerade befindet. Es ist ein Luxus und ein Segen, wenn man in der richtigen Stimmung zum Schreiben ist, aber keinesfalls eine unverzichtbare Voraussetzung.

Schreiben ist wie atmen, und man kann lernen, die Qualität des einen wie des anderen zu verbessern. Denn eigentlich geht es ausschließlich darum, überhaupt zu schreiben, egal wie.

Schreiben ist wie atmen. Das glaube ich tatsächlich. Ich glaube, dass wir alle als Schriftsteller geboren werden. Wir werden mit unserer Sprachbegabung geboren und wir erobern uns die Sprache innerhalb von wenigen Monaten, indem wir den Dingen in unserer Welt einen Namen geben. Sobald ein Mensch die Objekte in seiner Umgebung richtig zu bezeichnen weiß, wird er von Befriedigung und einem gewissen Gefühl von Inbesitznahme erfüllt. Wörter verleihen uns Macht.

Wenn Wörter uns tatsächlich Macht verleihen, wann verlieren wir dann aber unsere Macht über die Wörter? Wann kommen wir auf den Gedanken, dass ein paar von uns "gut in den Sprachen" sind und sich sogar als "Schriftsteller" hervortun, während wir Übrigen Sprache einfach nur benutzen und es nicht wagen würden, uns dem gleichen illustren Klub hinzuzurechnen?

Ich vermute, dass für die meisten von uns diese Klassifikationen in der Schule beginnen. In der Schule wird uns nämlich gesagt: "Du kannst gut mit Worten umgehen." Dort finden wir neben der Benotung unter einer Klassenarbeit in Geographie die säuberliche, handschriftliche Bemerkung des Lehrers: "Gut formuliert."

Gut formuliert - was soll das heißen? In der Schule verweist eine solche Bemerkung in der Regel auf klares, geordnetes Denken. Grammatisch korrekt. Wohl geordnete Fakten. Sie kann sich auch auf spezifische Lerninhalte beziehen wie Themengliederung und Übergänge. In den seltensten Fällen bezieht sie sich auf Wörter, die hervorstechen, auf einfallsreiche Wortkombinationen, auf Absätze voll von großartigen freien Assoziationen und Abschweifungen - allesamt Begabungen, über die ein junger Dichter oder Romancier möglicherweise verfügt und die ihm beim Abfassen von gelehrten akademischen Arbeiten rein gar nichts nützen.

Was geschieht, wenn sich eine derartige Schreibweise in Schulaufsätzen offenbart? Häufig verursacht sie eine Reihe von Randbemerkungen, doch diesmal negativer Natur: "Hier kommst du ein wenig vom Thema ab." Oder : "Bleib beim Thema!" Lehrer, die Zeit und Mühe investieren, um einen individuellen Sprachstil zu loben, der sich nicht den akademischen Paradigmen beugt, sind eine Seltenheit. Fast ist es so, als befänden wir uns in der Schule auf einer strengen Diät: "Bitte nicht zu stark würzen."

Nicht so stark würzen. Nicht zu viel Courage. Nicht zu viel Menschlichkeit, bitte. Beim akademischen Schreibstil reduzieren wir uns auf eine langweilige Prosa, bar jeglicher Persönlichkeit und Leidenschaft. Ja, wir äußern uns vielfach von oben herab, als gestatte das Schreiben nur erhabene Motive, als sei es eine Art rationalistisches Destillat, das man auf die Seiten tröpfelt.

In unserer gegenwärtigen Kultur ist eine viel ungesündere Entwicklung im Gange. Schreiben ist zwar nicht verboten, doch wird es unterbunden. Mit vorgedruckten Karten ist es schnell erledigt. Wir erstehen einfach die Karte, die dem, was wir zum Ausdruck bringen möchten, am nächsten kommt. In der Schule lernen wir, wie wir äußern sollen, was wir sagen wollen, und dieses Wie beinhaltet Dinge wie korrekte Rechtschreibung, Satzbau und das Vermeiden von Abschweifungen, damit die Logik die Oberhoheit behält und die Emotion in Schach hält.

Das Schreiben, das wir beigebracht bekommen, wird zu einer unmenschlichen Aktivität. Wir redigieren und korrigieren unablässig und schließen Details nur deshalb aus, weil sie vielleicht nicht sachdienlich sind. Anstelle von Selbst-Ausdruck bringt man uns Selbst-Zweifel und Selbst-Prüfung bei.

Das Ergebnis ist, dass die meisten von uns beim Schreiben zu vorsichtig sind. Wir versuchen, es "richtig" zu machen. Wir versuchen, uns flott auszudrücken. Wir versuchen - Ende.

Schreiben funktioniert jedoch viel leichter, wenn wir nicht ständig so hart daran arbeiten. Wenn wir es zulassen, uns einfach auf dem Blatt Papier auszubreiten.

Für mich ist Schreiben wie ein bewährter alter Schlafanzug: bequem.

In unserer Kultur hingegen scheint das Schreiben mehr Ähnlichkeit mit militärischem Drillichzeug zu haben. Wir wollen, dass unsere Sätze in sauberen Reihen marschieren wie wohlerzogene Kadetten.

Brennen Sie die Schule nieder. Retten Sie vielleicht die Bücher, aber bringen Sie den lehrer dazu, sein Geheimnis zu verraten: Was liest und was schreibt er mit schuldbewusstem Vergnügen? Schuldbewusstes Vergnügen, das ist es nämlich, worum es beim Schreiben wirklich geht. Es geht um Anziehungskraft, um Wörter, denen man nicht widerstehen kann, um eine Sache zu beschreiben, eine Sache, die zu interessant ist, um sie zu übergehen. Und kümmern Sie sich nicht um erhabene Motive. Meine Motivation zum Schreiben hat nichts mit Erhabenheit zu tun, das hatte sie noch nie.

Schreiben ähnelt mehr dem Fahren auf einer endlosen Asphaltstraße an einem heißen Sommertag. Am Horizont sieht man einen magisch glänzenden Fleck tanzen. Auf ihn bewegt man sich zu. Man beeilt sich, um ihn zu erreichen, und kaum ist man da, ist er auch schon verschwunden. Blickt man sich suchend um, sieht man ihn neuerlich in einiger Entfernung verlockend tanzen. Man schreibt auf diesen Punkt zu. Manche Leute mögen das vielleicht als unerfüllte Liebe oder als unbefriedigend bezeichnen. Doch ich finde, es ist etwas viel Besseres.

Für mich ist es Erwartung und Genuss. Für mich ist es, als schmecke man ein großartiges Gericht durch seinen Duft mit der Nase. Ich muss frischgebackenes Brot nicht essen, um es zu mögen. Der Duft ist fast ebenso köstlich, fast ebenso befriedigend wie eine dicke Scheibe Brot, großzügig mit Butter und selbst gemachter Aprikosenmarmelade bestrichen.

Das Gehirn hat Freude am Schreiben. Es hat Freude daran, die Dinge zu benennen, an den Prozessen des Assoziierens und Beurteilens. Wörter zu wählen ist wie Äpfel zu pflücken: Der da sieht aber köstlich aus ...

Der Prozess des Schreibens, der Versuch, treffend zu formulieren, ist wunderbar aufregend und steht dem Spannen einer Bogensehne in nichts nach. Ins krative Schwarze zu treffen und einen Satz niederzuschreiben, der genau zum Ausdruck bringt, was da am Horizont so schimmernd tanzt, lohnt die Jagd allemal. Doch auch die Jagd selbt, all das, was man aus den Augenwinkeln wahrnimmt, ist wertvoll. Ich finde es großartig, wenn mir das Schreiben gut gelingt, aber ich finde es auch großartig, überhaupt zu schreiben.

Kabir sagt: "Wo immer du dich befindest, dort ist der Ausgangspunkt." Und das gilt auch für das Schreiben. Wo immer Sie gerade sind, es ist der richtige Ort. Es gibt keinen Grund, etwas zu korrigieren, der Seele Sonderleistungen abzuverlangen, um auf einer höheren Ebene zu beginnen. Fangen Sie dort an, wo Sie sich jetzt gerade befinden.

Wenn man das Schreiben sich selbst überlässt, dann ist es wie das Wetter. Es verfügt über eine eigene Dramatik, eine eigene Form und über eine Kraft, die den Tag formt. So wie ein heftiger Regenguss die Luft reinigt, so reinigt gutes Schreiben die Psyche. Sich selbst das Schreiben zu gestatten hat etwas zutiefst Richtiges. Und man tut es, indem man anfängt - wo man eben gerade ist.

Sonntag, 9. August 2009

Von der Kunst des Schreibens: Morgenseiten

Der nachfolgende Text folgt im Buch erst etwas später. Ich will ihn dennoch vorziehen, denn das Schreiben von Morgenseiten halte ich für wichtig und ist mittlerweile ein Teil meines Alltags geworden.

Zeugnis ablegen: Initiation

Die Übung, die ich Ihnen jetzt anbiete, ist das tiefgreifendste Hilfsmittel für einen Schriftsteller. Ich habe es selbst ersonnen und erprobt. Das Schreiben von Morgenseiten ist das Kernstück des Schriftstellerlebens. Morgenseiten legen nämlich Zeugnis über unser Leben ab. Sie verschaffen uns bewussten Zugang zu spiritueller Führung. Sie ordnen unser Leben nach Prioritäten, verringern die Macht unseres inneren Zensors, helfen uns, freier und effektiver zu schreiben.

Was genau also sind die Morgenseiten?

Morgenseiten schreiben heißt, drei Seiten zu füllen, ohne abzusetzen und dabei streng dem Bewusstseinsstrom zu folgen. Auf diesen drei Seiten hat absolut alles Platz, was Ihnen in den Sinn kommt. Das Ergebnis kann hübsch, jämmerlich, langweilig und wütend sein oder fröhlich, aufschlussreich, verständnisvoll und von Selbsterkenntnis geprägt. Es gibt nichts, was man beim Schreiben von Morgenseiten falsch machen kann. Sie setzen einfach den Stift aufs Papier und schreiben drauflos, was Ihnen in den Sinn kommt: "Papas Husten wird schlimmer ... Ich habe vergessen, Katzenstreu zu besorgen ... Ich bin dem Verlauf der Konferenz gestern nicht zufrieden ...".

Ja, klar, Morgenseiten schreibt man morgens. Den meisten Leuten reichen dazu fünfundzwanzig bis fünfundvierzig Minuten. "Julia, dafür habe ich keine Zeit!", rufen viele meiner Kursteilnehmer. Ich fordere sie - und Sie - auf, es dennoch zu probieren. Stellen Sie sich den Wecker eine halbe Stunde früher. Benutzen Sie DIN-A4-Papier - kleinere Blätter engen leicht unsere Gedanken ein und größere bringen uns zu rasch voran und verschlingen zu viel Zeit.

Ja, Morgenseiten muss man morgens schreiben. Sie ordnen den Tag, den wir gerade beginnen, nach seinen Prioritäten. Schreiben wir am Abend, dann wird daraus ein Rückblick auf den vergangenen Tag, an dem wir nichts mehr ändern können. Morgenseiten sind hilfreich, weil sie uns beschwichtigen, ermuntern, trösten, inspirieren. Morgenseiten sind für uns westliche Menschen eine einzigartige wirkungsvolle Abwandlung der Meditation. Sie gestattet es uns, unseren Kopf und unser Herz von störenden Ablenkungen zu leeren, und öffnen Kopf und Herz zugleich für tiefere Betrachtungen.

Es ist wichtig, mit der Hand zu schreiben. Die Hand besitzt eine Energie, die unsere Gedanken an tiefere Orte führt, als dies beim Schreiben am Computer der Fall wäre. Es ist wahr, am Computer kann man schneller schreiben, aber es geht nicht immer um Schnelligkeit, auch wenn unsere Kultur uns das scheinbar glauben machen will. Schreiben Sie also Ihre drei Seiten mit der Hand, und tun Sie es, wenn es irgend geht, morgens.

Sie wollen Ihren Geist abpassen, bevor er sein Abwehrsystem aktiviert hat. Sie wollen ihn überraschen, solange es noch dicht an Ihrem Traumbewusstsein ist. Sie wollen nicht, dass Ihre Morgenseiten im Karree marschierenden Soldaten ähneln oder den sorgsam fabrizierten Produkten, die Ihr rationales Berufs-Ich tagtäglich hervorbringt. Sie wollen sich überraschen lassen, damit Sie die Dinge festhalten können, von denen Sie kaum ahnen, dass Sie sie denken. Also bewegen Sie einfach die Hand über die Seiten und schreiben Sie auf, was Ihnen in den Sinn kommt. Tun Sie dies täglich drei Seiten lang.

"Das Schreiben von Morgenseiten hat mein Leben verändert", wird mir von Kursteilnehmern häufig berichtet. Dies gilt für mein Leben wie für das vieler, vieler meiner Schüler. Ob ich mich nun in einem Vorlesungssaal bei den Studenten der Northwestern University befand oder in einem Kurs über Kreativität bei Fünfzigjährigen in Connecticut, immer wieder habe ich es erlebt, dass das Schreiben von Morgenseiten im wahrsten Sinne des Wortes bei vielen ein Licht hat aufgehen lassen. In Kalifornien habe ich Leute darüber witzeln hören, dass Morgenseiten Schönheitsoperationen im Gesicht ersetzen können und dass man sie schon aus Eitelkeit nicht ausfallen lassen sollte. In Wirklichkeit sorgen sie dafür, dass man sich besser fühlt, und wer sich besser fühlt, der sieht auch oft so aus. Probieren Sie es also aus.

Beginnen Sie, ab sofort und bis Sie dieses Buch durchgearbeitet haben, Ihre Morgenseiten zu schreiben. Eine tief greifende Bewusstseinsveränderung ist nach neunzig Tagen spürbar (so lange braucht das Gehirn, um ein neues neurologisches Muster anzulegen), doch oft nimmt man sie bereits viel früher wahr. Achten Sie auf Ihre Prozesse und Ihren Fortschritt beim Schreiben der Seiten. Seien Sie der Zeuge, der Zeugnis über Ihr Leben ablegt.

Mein Kommentar:

Ich habe für mich bereits festgestellt, dass mir meine Morgenseiten helfen. Da diese also irgendwie in meinen Alltag mit reinmüssen, klingelt mein Wecker seitdem eine halbe Stunde früher.

Was ich noch nicht so richtig verstanden habe ist, dass man nur drei Seiten schreiben soll. Oft ist es bei mir so, dass ich noch viel mehr schreiben kann als drei Seiten. Ich habe das Gefühl, dass ich voller Wörter bin und dass diese irgendwie raus müssen.

Auch im Notizbuchblog gibt es einen Eintrag zu Morgenseiten
Die "Morning Pages" - Das Notizbuch als Container für kreatives Schreiben