Freitag, 25. Juni 2010

Alltäglichkeit

Ich gebe meinen Tagen durch Schreiben Struktur, und manchmal fühlt sich das Schreiben an wie eine Brücke über einen Abgrund im Dschungel. Ich bin dieser Abgrund, dieser Dschungel.

Schreiben ist Bewegung. Schreiben ist die Verpflichtung einem selbst gegenüber, voranzukommen und das zu werden, was immer zu werden wir im Begriff sind.

Schreiben ist zugleich das Boot und der Wind in den Segeln. Selbst an den Tagen, an denen der Wind der Inspiration nur schwach weht, gibt es ein wenn auch noch so geringfügiges Vorankommen. Um das Vorankommen, selbst wenn es in kleinen Trippelschrittchen erfolgt, geht es beim Schreiben.

Es ist ein Hort der Transformation, der spirituellen Alchimie. Wir nehmen an, was immer das Leben für uns bereithält und wir machen etwas daraus.

Manchmal handelt es sich um eine einfache Suppe. Manchmal ist es ein Festbankett. Gelegentlich wird uns nichts als Knochen zum Abnagen zuteil. Aber immer ist es etwas, das zu verdauen wir fähig sind.

Tägliches Schreiben, Schreiben einfach um des schreibens willen, ist so, als hielte man einen Topf mit Suppe auf dem Herd warm. Die Mahlzeit ist immer da, kann gekostet, neu abgeschmeckt werden, ist immer nahrhaft, würzig, Leben erhaltend. Wie Suppe muss auch Ihr tägliches Schreiben nicht ausgefallen sein. Ein paar einfache Zutaten reichen aus.

Aufrichtigkeit, Beobachtung und Vorstellungskraft sind die drei Grundsubstanzen. Sie bilden die Brühe, in der die übrigen Zutaten schwimmen. Wir sehen uns an, wo wir uns befinden.

Das ist die Frage, die tägliches Schreiben immer stellt: "Was dann?"

Hier befinde ich mich, und so fühle ich mich (Beobachtung und Aufrichtigkeit). Hier ist, was ich daraus machen kann (Vorstellungskraft). Anders ausgedrückt: Tägliches Schreiben ist zugleich der Raum, in dem ich mich befinde und die Tür zu der Welt jenseits dieses Raumes. Indem Sie den Raum Ihrer Erfahrung ein Wort ums andere durchqueren, gelangen Sie zur Tür, und selbst wenn Sie ein Gefangener Ihrer Umstände sind, so steht es Ihnen frei, die Tür in Ihrer Phantasie zu öffnen. Gelegentlich knarren die Angeln. Gelegentlich seufzt die Tür auf vor Erleichterung. Manchmal lässt das Öffnen der Tür so viel Licht und Klarheit herein, dass Sie sie - schnell! - wieder zuwerfen. Das Schreiben gestattet Ihnen all dies und beschränkt sich darauf, es zu beobachten. Das Schreiben hält einen Spiegel hoch, bietet Harmonie an, streckt eine freundliche Hand aus. Das Schreiben sagt Ihnen, dass jeder Punkt, an dem Sie angelangt sind, bedeutungsvoll und der Beginn von etwas Neuem ist.

In diesem Sinn ist Schreiben der meditative Akt des liebevollen Erinnerns. Es ist ein Weg zu uns selbst und hinein in unser Selbst.

Wenn wir unser eigenes Leben und unsere Gedanken genau bezeugen, sie in dem Augenblick festhalten, in dem wir sie sehen und hören, dann ist das, was wir bezeugen, plötzlich viel größer, als wir ursprünglich erwartet hatten. Wir bezeugen das Leben selbst. Wir lernen.

aus "Von der Kunst des Schreibens" von Julia Cameron (Seite 213 ff.)

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