Sonntag, 8. November 2009

Von der Kunst des Schreibens: Dieses Schriftstellerleben (2)

Als Schriftstellerin blicke ich auf alles aus einer gewissen Distanz, beobachte, wie etwas aus großer Entfernung auch mich zukommt. Das gilt nicht nur für das Wetter - es eilt auf Stelzen über die Eben heran -, sondern auch für Menschen, Ereignisse und Situationen. Ich genieße es, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, mir ein Bild von den Dingen zu machen, die im Kommen sind. Mir gefällt der Prozess, wenn nach und nach ein scharfes Bild entsteht.

Dieser Prozess des Scharfstellens ist für mich das Schreiben.

Es fängt an mit einem verschwommenen Bild, das ich genauer betrachten möchte. Schreiben ist dann wie das Drehen an einerm Fernglas und das Festhalten dessen, was sichtbar wird. Es ist eine Beschreibung des "Films in meinem Kopf", wie die Schreibwerkstattlehrerin Colleen Rae es nennt. Schreiben ist beobachten und aufzeichnen, nicht ausdenken.

Wenn wir uns unsere Wahrnehmung zugestehen, dann wird Schreiben zu einem freundlichen Helfer, der mit uns am gleichen Strang zieht. Es ist ein Tanz zwischen der Wirklichkeit und uns als Beobachter. Dieser Vergleich ist auch dann treffend, wenn das Geschriebene Fiktion ist. Wie der Sacred Mountain draußen vor meinem Fenster existiert und wirklich ist, so ist auch alles, was wir zu schreiben versuchen, wirklich und bereits existent. Unsere Aufgabe ist es, auf diese Existenz zu reagieren, sie in uns aufzunehmen und wiederzugeben. Unser Anteil besteht darin, aufmerksam zu sein.

"Ich weiß nicht, wie du das das schaffst", bekomme ich häufig zu hören, wenn ich gerade mit einem kreativen Pas de deux beginne, der anderen riskant erscheint - etwa mit einem neuen Buch, in dem es um einen altvertrauten Ehemann geht.
Ich schaffe "das", indem ich schreibe. Alles, was ich schaffe, schaffe ich mit Schreiben. Durch meine Schriftstellerei verdaue ich das Leben. Sie ist für mich die Nahrung meiner Gedanken und die Nahrung selbst. Wenn in meinem Leben eine schwierige Situation zu Tage tritt, dann schreibe ich daran ebenso wie ich darüber schreibe.

Schreiben ist Alchemie. Dieses Gedicht zu verfassen, führte mich heraus aus meiner verkrampften und verkopften Bitterkeit und hinein in mein weites Herz. Ich bin nicht mehr länger das Opfer, der Feind, die Verletzte. Ich bin wieder das, was ich bin: eine Schriftstellerin. Ich habe die Verletzung zu Kunst verarbeitet.

Schreiben ist Medizin. Es ist nützliches Gegengift gegen Verletzungen. Es ist ein nützlicher Gefährte in Zeiten gravierenden Wandels. Weil Schreiben gleichermaßen ein Mittel der Beobachtung wie der Phantasie ist, können wir angesichts von Veränderung gleichermaßen ängstlich wie neugierig reagieren. Indem wir über die Veränderung schreiben, tragen wir dazu bei, sie herbeizuführen, lassen sie geschehen, kooperieren mit ihr. Schreiben hilft uns, Einfluss auf unser Leben zu nehmen.

Wir können uns des Schreibens bedienen, wie ein Kameramann seines Objektivs: um Schärfe herzustellen und um die Dinge in eine andere Perspektive zu rücken. Wir haben die Möglichkeit, das Bild für eine Nahaufnahme heranzuzoomen. Oder aber wir ziehen uns zurück und stellen den Gegenstand unseres Interesses vor eine weite Landschaft. Wenn man Schreiben mit beobachten gleichsetzt, dann ist der Film unser Geist, der zugleich redigiert und die Filmmusik und Regieanweisungen hinzufügt.

Ich habe eine Freundin, die behauptet, wir alle bekämen den Gott, den wir verdienen. Was für eine beängstigende Aussage! Ich habe sie abgewandelt: Wir alle bekommen den Gott, mit dem wir etwas anfangen können. Ich bin Schriftstellerin, und deshalb habe ich die letzten dreißig Jahre damit zugebracht, mich durch Handlungen zu lavieren und neue Figuren zu begegenen. Ist es da ein Wunder, dass mein Gott hoch dramatische Wendungen beiträgt - Auftritte und Abgänge, die eines Films würdig wären? Schreiben hilft mir, diese Ereignisse auszuloten, ihre Entfaltung zu genießen.

Als ich meinen neuen Freund David kennen lernte, trat er zwischen dem Vorhang hindurch und streckte mir die Hand entgegen. Er trat durch den Vorhang ... Indem ich dies niederschreibe, erfasst mich ein Gefühl des Wiedererkennens: Ich hatte mein Leben mit einem Vorhand abgeschirmt. Ich hatte nicht erwartet, dass einer mutig genug sein würde, sich nicht abschrecken zu lassen. Aha, eine interessante Wendung der Ereignisse, eine Wendung, die mir dank einer Redewendung aufgefallen ist.

Eine Redewendung kann wie das Drehen eines Schlüssels im Schloss sein: Sie entriegelt die Tür, sie bringt den Motor zum Laufen. Schlüssel und Stift passen beide bequem in die Hand, und sie bedürfen auch beide nur der einfachsten Bewegung, um etwas in Gang zu setzen, Veränderungen zu bewirken ...

Ich tauche meinen Stift ins Lebens, so wie man ein Paddel in den Fluss taucht. Ich gebe Geschwindigkeit hinzu, wechsel die Richtung, schreite und gleite. Der Muskel meines Geistes liebt wie der Muskel meines Körpers das drängende Plätschern des kreativen Flusses. Er führt mich irgendwohin, doch ich forme meine Fahrt im Entstehen. Ich kann mich zurücklehnen oder vorwärts stürmen. Ich kann mich am Rand halten oder in die Stromschnellen in der Mitte vorstoßen. Es ist ein Abenteuer. Mir gefällt dieses Schriftstellerleben.

Nicht selten sind wir so sehr damit beschäftigt, uns ein Leben als Schriftsteller zu wünschen, dass wir ganz vergessen, über unser Leben zu schreiben.

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