Sonntag, 9. August 2009

Von der Kunst des Schreibens: Morgenseiten

Der nachfolgende Text folgt im Buch erst etwas später. Ich will ihn dennoch vorziehen, denn das Schreiben von Morgenseiten halte ich für wichtig und ist mittlerweile ein Teil meines Alltags geworden.

Zeugnis ablegen: Initiation

Die Übung, die ich Ihnen jetzt anbiete, ist das tiefgreifendste Hilfsmittel für einen Schriftsteller. Ich habe es selbst ersonnen und erprobt. Das Schreiben von Morgenseiten ist das Kernstück des Schriftstellerlebens. Morgenseiten legen nämlich Zeugnis über unser Leben ab. Sie verschaffen uns bewussten Zugang zu spiritueller Führung. Sie ordnen unser Leben nach Prioritäten, verringern die Macht unseres inneren Zensors, helfen uns, freier und effektiver zu schreiben.

Was genau also sind die Morgenseiten?

Morgenseiten schreiben heißt, drei Seiten zu füllen, ohne abzusetzen und dabei streng dem Bewusstseinsstrom zu folgen. Auf diesen drei Seiten hat absolut alles Platz, was Ihnen in den Sinn kommt. Das Ergebnis kann hübsch, jämmerlich, langweilig und wütend sein oder fröhlich, aufschlussreich, verständnisvoll und von Selbsterkenntnis geprägt. Es gibt nichts, was man beim Schreiben von Morgenseiten falsch machen kann. Sie setzen einfach den Stift aufs Papier und schreiben drauflos, was Ihnen in den Sinn kommt: "Papas Husten wird schlimmer ... Ich habe vergessen, Katzenstreu zu besorgen ... Ich bin dem Verlauf der Konferenz gestern nicht zufrieden ...".

Ja, klar, Morgenseiten schreibt man morgens. Den meisten Leuten reichen dazu fünfundzwanzig bis fünfundvierzig Minuten. "Julia, dafür habe ich keine Zeit!", rufen viele meiner Kursteilnehmer. Ich fordere sie - und Sie - auf, es dennoch zu probieren. Stellen Sie sich den Wecker eine halbe Stunde früher. Benutzen Sie DIN-A4-Papier - kleinere Blätter engen leicht unsere Gedanken ein und größere bringen uns zu rasch voran und verschlingen zu viel Zeit.

Ja, Morgenseiten muss man morgens schreiben. Sie ordnen den Tag, den wir gerade beginnen, nach seinen Prioritäten. Schreiben wir am Abend, dann wird daraus ein Rückblick auf den vergangenen Tag, an dem wir nichts mehr ändern können. Morgenseiten sind hilfreich, weil sie uns beschwichtigen, ermuntern, trösten, inspirieren. Morgenseiten sind für uns westliche Menschen eine einzigartige wirkungsvolle Abwandlung der Meditation. Sie gestattet es uns, unseren Kopf und unser Herz von störenden Ablenkungen zu leeren, und öffnen Kopf und Herz zugleich für tiefere Betrachtungen.

Es ist wichtig, mit der Hand zu schreiben. Die Hand besitzt eine Energie, die unsere Gedanken an tiefere Orte führt, als dies beim Schreiben am Computer der Fall wäre. Es ist wahr, am Computer kann man schneller schreiben, aber es geht nicht immer um Schnelligkeit, auch wenn unsere Kultur uns das scheinbar glauben machen will. Schreiben Sie also Ihre drei Seiten mit der Hand, und tun Sie es, wenn es irgend geht, morgens.

Sie wollen Ihren Geist abpassen, bevor er sein Abwehrsystem aktiviert hat. Sie wollen ihn überraschen, solange es noch dicht an Ihrem Traumbewusstsein ist. Sie wollen nicht, dass Ihre Morgenseiten im Karree marschierenden Soldaten ähneln oder den sorgsam fabrizierten Produkten, die Ihr rationales Berufs-Ich tagtäglich hervorbringt. Sie wollen sich überraschen lassen, damit Sie die Dinge festhalten können, von denen Sie kaum ahnen, dass Sie sie denken. Also bewegen Sie einfach die Hand über die Seiten und schreiben Sie auf, was Ihnen in den Sinn kommt. Tun Sie dies täglich drei Seiten lang.

"Das Schreiben von Morgenseiten hat mein Leben verändert", wird mir von Kursteilnehmern häufig berichtet. Dies gilt für mein Leben wie für das vieler, vieler meiner Schüler. Ob ich mich nun in einem Vorlesungssaal bei den Studenten der Northwestern University befand oder in einem Kurs über Kreativität bei Fünfzigjährigen in Connecticut, immer wieder habe ich es erlebt, dass das Schreiben von Morgenseiten im wahrsten Sinne des Wortes bei vielen ein Licht hat aufgehen lassen. In Kalifornien habe ich Leute darüber witzeln hören, dass Morgenseiten Schönheitsoperationen im Gesicht ersetzen können und dass man sie schon aus Eitelkeit nicht ausfallen lassen sollte. In Wirklichkeit sorgen sie dafür, dass man sich besser fühlt, und wer sich besser fühlt, der sieht auch oft so aus. Probieren Sie es also aus.

Beginnen Sie, ab sofort und bis Sie dieses Buch durchgearbeitet haben, Ihre Morgenseiten zu schreiben. Eine tief greifende Bewusstseinsveränderung ist nach neunzig Tagen spürbar (so lange braucht das Gehirn, um ein neues neurologisches Muster anzulegen), doch oft nimmt man sie bereits viel früher wahr. Achten Sie auf Ihre Prozesse und Ihren Fortschritt beim Schreiben der Seiten. Seien Sie der Zeuge, der Zeugnis über Ihr Leben ablegt.

Mein Kommentar:

Ich habe für mich bereits festgestellt, dass mir meine Morgenseiten helfen. Da diese also irgendwie in meinen Alltag mit reinmüssen, klingelt mein Wecker seitdem eine halbe Stunde früher.

Was ich noch nicht so richtig verstanden habe ist, dass man nur drei Seiten schreiben soll. Oft ist es bei mir so, dass ich noch viel mehr schreiben kann als drei Seiten. Ich habe das Gefühl, dass ich voller Wörter bin und dass diese irgendwie raus müssen.

Auch im Notizbuchblog gibt es einen Eintrag zu Morgenseiten
Die "Morning Pages" - Das Notizbuch als Container für kreatives Schreiben

2 Kommentare:

  1. Hallo Manuela,
    bin durch Zufall auf Deinen Blog gestoßen und finde ihn gut. Habe selber viele Monate Morgenseiten geschrieben, im Augenblick gestalte ich mehr und bin viel unterwegs, und poste selber was ich über Jahre gesammelt habe. Schreibe seit Jahren immer mal, ...viel biografisch und bin neugierig ab zu von Dir zu lesen.
    lieber Gruß
    Susi
    www.susi-sorglos-motzt.blogspot.com

    AntwortenLöschen
  2. Hallo Susi,
    vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Ich habe bei deinem Blog auch mal vorbeigeschaut und werde das jetzt sehr gerne häufiger tun :-)

    Ja, Morgenseiten sind etwas tolles und ich bin froh, dass ich etwas über sie gelesen und sie ausprobiert habe.

    AntwortenLöschen