Mittwoch, 17. Februar 2010

Zweite Technik: Tagebuch

Sie schreiben nun also jeden Tag Ihre Morgenseiten, aber natürlich werden Sie noch viel öfter zur Feder greifen als nur in der Früh. Den ganzen Tag über schreiben Sie absolut jedes Mal, wenn Sie essen - und auch immer, wenn Sie Lust auf etwas zu essen bekommen. Es geht bei dieser Technik nicht darum, ein Urteil zu fällen. Es geht um Exaktheit.

Viele Leute wissen nicht genau, was sie an einem bestimmten Tag zu sich nehmen. Wir fühlen uns entmutigt, weil wir zunehmen, obwohl wir uns so anstrengen, an Gewicht zu verlieren.

Führen wir ein Tagebuch, bleibt in unserem Leben kein Raum für Ratespiele und Wunschdenken mehr. Wir haben stattdessen Fakten vor uns: Wir wissen, was wir gegessen haben. Und sobald wir das Tagebuch immer sinnvoller zu handhaben verstehen, wird uns auch klar, aus welchem Grund wir etwas Bestimmtes gegessen haben.

So ein Tagebuch ist einfach und klar. Sie notieren darin nun also jeden Happen, den sie zu sich genommen haben. Und Sie schreiben auf, was sie empfunden haben, als sie sich versucht fühlten etwas zu essen.

Sehr oft werden Sie feststellen, dass Sie essen, anstatt etwas Kreatives zu tun.

Es muss gar nichts Großartiges sein. Es kann sich um etwas so simples handeln, wie das Zimmer aufräumen. Aber es kann natürlich auch etwas komplizierteres sein, wie zum Beispiel ein schwieriges Telefonat, das man führen muss.

Egal worum es sich handelt: Sie werden sicher oft feststellen, dass Sie essen, um sich Ihre Klarheit zu trüben und Ihr Handeln zu unterbringen.

Wer könnte, wenn der Blutzuckerspiegel in die Höhe geschossen ist und man regelrecht high ist, schon noch genau sagen, was als Nächstes zu tun ist?

Wie oft hat ein dickes Eis schon eine Handlung in Ihrem Leben ersetzt?

Abnehmen ist ein Prozess. Am besten verläuft er allmählich und sanft - und zwar so sanft, dass er kaum wahrnehmbar ist. Eines Tages sind wir dann "plötzlich" schlanker. Unsere Kleidung sitzt lockerer. Wir haben mehr Energie. Wir fühlen uns authentischer.

Wir haben abgenommen - wir haben es nach wiederholten, erfolglosen Versuchen nun wirklich geschafft. Wir haben schließlich den richtigen Dreh gefunden, der uns hilft, unsere überflüssigen Pfunde loszuwerden. Der Dreh, der bei mir und meinen Studenten den besten Erfolg zeigt, basiert auf Worten.

Zwischen einen Fressanfall und uns stellen wir Worte.
Wir geben unserem Gefühlschaos Worten.
Wir benennen unsere innere Landschaft.
Und dieser Prozess einer exakten Selbstdefinition ist spannend!

Dazu führen wir nun also ein Tagebuch, das allerdings erheblich mehr enthält als nur unsere Essgewohnheiten - oder unseren Kampf, eben nichts zu essen. Beim ersten Anzeichen einer Snack-Attacke wenden wir uns den Seiten zu. Den Stift in der Hand erkunden wir unsere beunruhigenden Gelüste. "Ich will etwas essen", schreiben wir auf das Blatt. Und dann schreiben wir weiter. Es hagelt die Offenbarungen nur so aufs Papier. Egal wann wir essen wollen und was, wir halten es schriftlich fest.

"Ich will etwas essen" übersetzt sich bald zu etwas konkreterem. Zum Beispiel: "Ich habe gerade an John gedacht, und da wollte ich meine Verlustgefühle zustopfen. Mir fehlt John noch immer." Oder: "Dieser neue Job ist aufregend, aber ich stehe so im Rampenlicht, dass ih das ein bisschen bedrohlich finde."

Wenn wir die Schatten, die auf unsere innere Landschaft fallen, zulassen, verlieren sie die Macht, uns Angst einzujagen oder zu sabotieren. Wir können dann damit leben, dass John uns fehlt. Wir können auch mit dem Stress in unserem neuen Job leben - und zwar ohne uns ein dickes Eis zu genehmigen.

Nicht alle Gefühle, die uns zur Keksdose greifen lassen, sind negativ. Manchmal bringen uns auch gute Nachrichten total durcheinander.

Stress fördert Essen als eine Art der Selbstverteidigung, und dieser Stress kann durch etwas Neues, Positives im Leben kommen, jedoch auch durch Altes, Negatives. Uns "fehlt" John ja vielleicht noch immer, aber es ist ebenso wahrscheinlich, dass unser neuer, anspruchsvoller Job uns nervös macht und dass die Nerven dann eine Snack-Attacke auslösen.

Sehen wir uns mit Selbstsabotage konfrontiert, würden wir alle am liebsten losheulen, aber wir können auch etwas erheblich Produktiveres tun: Wir können schreiben. Gleich früh am Morgen können wir unsere Morgenseiten verfassen. Mittags können wir anstatt nach einem gewaltigen Mittagessen zu unserem Tagebuch greifen und darin die Ereignisse und Gefühle festhalten, die sich an diesem Tag bislang eingestellt haben.

Auch wenn sich das Tagebuchschreiben anfangs fremd und irgendwie aufdringlich anfühlt, wird es bald zu einer natürlichen und unverzichtbaren Quelle, die uns Mut macht; außerdem avanciert das Tagebuch zu unserem ständigen Begleiter.

Für mich selbst wurde mein Tagebuch zu meinem ständigen Begleiter, zu meinem besten Freund, dem ich meine intimsten Gedanken anvertraute - vor allem, wenn ich beruflich unterwegs war. Wenn ich zu meinem Tagebuch griff anstatt nach etwas Essbarem, stellte ich fest, dass ich über eine enorme Gefühlspalette verfügte, die ich zuvor nicht gewürdigt hatte.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich mich auf Lesereisen mittags überesse, weil ich oft gelangweilt bin wegen der immer neuen Hotelzimmer und weil mir der Tag "zu lang" vorkommt. Indem ich meine Gefühle in das Tagebuch schrieb, wurde mir bewusst, dass mir ein wirklich gutes Buch als Gegenmittel gegen meine Melancholie zur Mittagszeit helfen könnte. Ich las etwas Köstliche, anstatt es zu essen. Ich konnte es kaum erwarten, jeden Tag ein Stück weiterzulesen. Ich kam zu dem Schluss, dass mein Appetit auf Worte größer war als mein Hunger auf üppiges Mittagessen. Das Tagebuchschreiben lehrte mich, dass ich aus Langeweilge zum Essen griff: Wenn ich nicht gelangweilt war, hatte ich auch keinen Hunger.

Für viele ist das Tagebuch ein erster Schritt in Richtung Abenteuer. Wenn wir unsere Gedanken und Wahrnehmungen aufzeichnen, stellen wir fest, dass wir viel interessanter sind, als wir gemeint haben. Sobald wir erkennen, dass jeder Tag voll von winzig kleinen Situationen ist, die uns vor die Wahl stellen, wir wir handeln wollen, reagieren wir auf das Leben eher in der Art und Weise, wie wir uns das selbst wünschen, und nicht mehr als unglückselige Opfer.

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